Human
Ihnen das besser gefällt, können Sie auch die elektrische Sangoma sagen. Das ist die zeitgemäße Berufsbezeichnung.«
Eigentlich ging sie nicht, sondern watschelte vielmehr, fand Whispr, der direkt hinter ihr ging. Ingrid betrachtete die Frau, die ihnen empfohlen worden war, aus einem anderen Blickwinkel. Als Ärztin erkannte sie, dass es ihr nicht schaden könnte, einige Kilo abzunehmen. Allerdings war es durchaus möglich, dass die Körpermasse in ihrem Beruf das spirituelle Gewicht beeinflussen konnte.
Früher wäre Thembe eine traditionelle Heilerin der Nguni-Völker in Südafrika gewesen, hätte Kräutermedizin ausgegeben und weise Ratschläge erteilt. Möglicherweise tat sie das auch heute noch, überlegte Ingrid, als sie eine weitere Treppe hinaufgingen. Doch selbst eine Sangoma musste mit der Zeitgehen. Whisprs unablässige Fragen hatten sie an diesen Ort und zu dieser Frau geführt.
Die synthetischen elfenbeinfarbenen handgeblasenen Glasperlen, die in ihr langes Haar geflochten worden waren, glänzten durch die darin verborgenen regenbogenfarbenen Lichter. Doch auch dieses Lichterspiel konnte nicht verbergen, dass das mehrschichtige elektrophoretische Kleid, das sie umspielte, Whisprs Meinung nach wesentlich weniger von ihr verbarg, als ihm lieb gewesen wäre. Er war viel zu diplomatisch, um etwas zu der überwältigenden Interaktion aus Licht und Haut zu sagen, und auch viel zu vorsichtig. Die Sangoma musste weit über einhundertundfünfzig Kilo wiegen und hätte seinen schlanken Meld-Körper wie einen Käfer zerquetschen können. Während sie am Berg emporstiegen, glitzerte ihr Kleid in Hunderten verschiedener Farben, aufgrund des Materials war das Licht jedoch nicht so grell wie das Leuchten der Perlen in ihren Haaren.
Ingrid, die das Schlusslicht bildete, wunderte sich über ein eindeutig anorganisches Objekt in ihrer komplizierten Frisur und erkundigte sich danach. Die Antwort, die sie von ihrer Gastgeberin und Führerin erhielt, war ebenso unerwartet wie prosaisch.
»Das ist die Gallenblase der Ziege, die bei meiner Abschlusszeremonie geopfert wurde.«
»Ich wusste nicht, dass es in Ihrem Beruf auch eine Abschlusszeremonie gibt.« Whispr, der jetzt heftig keuchte, hatte schon lange aufgehört, die Stufen zu zählen. Wie es der drallen Frau vor ihm gelang, die Treppe zu erklimmen, ohne dabei lautstark zu röcheln, wenn nicht gar einen Herzinfarkt zu erleiden, war ihm ein Rätsel. Vermutlich besaß sie eine Art inneres Atem-Meld, das ihr den Aufstieg erleichterte. In dem rundlichen, prallen Körper war auf jeden Fall genugPlatz für einen oder zwei weitere Lungenflügel, ob sie nun transplantiert oder mechanisch waren.
»Die gibt es allerdings«, erwiderte sie. »Ich schätze unsere Traditionen, dünner Mann. Sie bedeuten mir ebenso viel und sind für mich und meine Arbeit genauso wichtig wie mein Abschluss in Kommunikationswissenschaften an der Witwaterstrand-Universität.« Als sie sich zu ihm umdrehte und auf ihn hinabblickte, lächelte sie, und ihre glänzenden Wangen wirkten wie dunkle Pflaumen. »Von der Ziege erhielt ich die Innereien, und an der Universität wurde mein Innerstes gestärkt.«
»Mir ist es völlig egal, ob Sie in Schafseingeweiden herumwühlen oder aus Handflächen lesen«, gab Ingrid keuchend zurück, »solange Sie uns helfen können.«
Die Sangoma verzog ihr Gesicht. »Aus Handflächen lesen nur Scharlatane und Schwindler, und die Organe eines Schafs sind zum Kochen da, meine Liebe. Sie erwarten doch von mir hoffentlich etwas Besseres! Eine gute Sangoma verlässt sich vor allem auf das Werfen von Knochen.«
Unsicher, ob sie nicht gerade auf den Arm genommen wurde, antwortete Ingrid in ihrer gewohnt höflichen Art. »Wir wissen nicht, was uns erwartet. Man hat uns nur gesagt, dass wir Sie aufsuchen sollen, weil Sie angeblich jemand sind, der uns die Antworten geben kann, die wir suchen.«
»Ich weiß, was ich zu erwarten habe«, knurrte Whispr, während das Haus, auf das sie zugingen, in seinem Bemühen, am Berghang eine gewisse Stabilität zu erzielen, einen Schritt nach hinten machte und die Distanz zwischen ihnen auf diese Weise vergrößerte. »Ich kann auch in die Zukunft sehen.« Er wedelte melodramatisch mit einer Hand in der Luft herum. »Ich sehe voraus, dass sich eine hohe Rechnung materialisieren wird.«
»Ihnen mangelt es eindeutig an Ehrerbietung.« Ihre Gastgeberin schürzte verstimmt die Lippen. »Aber Thembekile vergibt Ihnen.« Sie blieb vor dem
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