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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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der Trauer, nur blinde, ziellose Wut, ausweglose Ohnmacht. Er beschuldigte sogar den Pater Antonio Isabel der Mittäterschaft, weil er seine Söhne mit einem unauslöschlichen Aschenkreuz gezeichnet habe, damit sie von ihren Feinden leichter erkannt werden könnten. Der hinfällige Priester, dessen Gedanken sich allmählich verwirrten und der seine Pfarrkinder auf der Kanzel mit den ungereimtesten Bibelauslegungen erschreckte, erschien eines Nachmittags im Hause mit dem Topf, in dem er seine Aschermittwochsasche mischte, und versuchte damit die ganze Familie einzureiben, um zu beweisen, daß sie sich mit Wasser wegwaschen ließ. Doch das Entsetzen über das Unglück saß so tief, daß nicht einmal Fernanda sich zu dem Experiment herbeiließ und kein Buendía je mehr am Aschermittwoch vor dem Abendmahlstisch erschien.
    Oberst Aureliano Buendía fand lange keine Ruhe wieder. Er gab die Herstellung der Fischchen auf, aß nur noch mühsam und lief, seine Wolldecke hinter sich herschleifend, wie ein Schlafwandler im Haus umher, dumpfen Zorn wiederkäuend. Nach Ablauf von drei Monaten hatte er aschgraues Haar, und sein alter Zwirbelbart mit den pomadisierten Spitzen fiel über die blutleeren Lippen herab; dafür waren seine Augen von neuem jene glühenden Kohlen, die einst bei seiner Geburt seine Betrachter erschreckt hatten und die später nur die Stühle anzusehen brauchten, damit diese ins Kreisen gerieten. In seiner quälenden Wut versuchte er vergebens die Vorhersagen herauszufordern, die seine Jugend auf gefährlichen Pfaden geleitet hatten bis zur trostlosen Einöde des Ruhms. Er war verloren, verirrt in einem fremden Haus, wo niemand mehr die geringste Spur der Zuneigung in ihm erregte. Einmal öffnete er Melchíades' Zimmer auf der Suche nach Fährten einer Vorkriegsvergangenheit und fand nur Trümmer, Unrat und Haufen von in so vielen Jahren der Verlassenheit angesammeltem Abfall. In den Umschlägen der Bücher, die niemand je wieder gelesen hatte, in den alten, feuchtigkeitszerfressenen Pergamenten gedieh eine aschgraue Flora, und in der Luft, die vom ganzen Haus die reinste, leuchtendste gewesen war, hing ein unerträglicher Geruch von vermoderten Erinnerungen. Eines Morgens fand er Ursula weinend unter der Kastanie auf dem Schoß ihres toten Gatten sitzen. Oberst Aureliano Buendía war der einzige, der den von einem halben Jahrhundert der Stürme gebeugten kraftvollen Greis nie sah. »Begrüße deinen Vater«, sagte Ursula zu ihm. Und er blieb eine Sekunde vor der Kastanie stehen und stellte wieder einmal fest, daß auch der leere Raum keine Zuneigung in ihm erregte.
    »Was sagst du?« fragte er.
    »Er ist sehr traurig«, erwiderte Ursula, »weil er glaubt, du wirst sterben.«
    »Sag ihm«, lächelte der Oberst, »daß man nicht stirbt, wenn man muß, sondern wenn man kann.«
    Die Vorahnung des toten Vaters tilgte die letzten Spuren des Hochmuts in seinem Herzen, doch er verwechselte das mit einem plötzlichen Aufwallen von Kraft. Daher bestürmte er Ursula, sie solle ihm verraten, wo die Goldmünzen im Hof vergraben seien, die man in jenem gipsernen Joséph gefunden hatte. »Du wirst es nie erfahren«, sagte sie zu ihm mit der von alter bitterer Erfahrung genährten Festigkeit. »Eines Tages«, fügte sie hinzu, »wird der Besitzer dieses Vermögens erscheinen, und nur er wird sie ausgraben.« Niemand wußte, warum ein Mann, der immer so uneigennützig gehandelt hatte, plötzlich Geld begehrte, und zwar nicht etwa bescheidene Summen, die zur Überbrückung einer Notlage ausgereicht hätten, sondern ein unerhörtes Vermögen, bei dessen Erwähnung Aureliano Segundo ein Schwindelgefühl des Staunens befiel. Die alten Parteigänger, die er um Hilfe anging, versteckten sich, um ihn nicht empfangen zu müssen. Zu jener Zeit hörte man ihn sagen: »Augenblicklich besteht der einzige Unterschied zwischen Liberalen und Konservativen darin, daß die Liberalen die Fünfuhrmesse und die Konservativen die Achtuhrmesse besuchen.« Dennoch legte er sich so hartnäckig ins Zeug, bat er so inständig, verletzte er seine Grundsätze der Würde dergestalt, daß er, indem er sich mit stillschweigendem Eifer und unerbittlicher Ausdauer überall durchschlängelte und ein bißchen hier, ein wenig dort ergatterte, in acht Monaten mehr Geld zusammengekratzt hatte, als Ursula vergraben hielt. Nun besuchte er den siechen Oberst Gerineldo Márquez mit der Bitte, ihm bei der Anzettelung des totalen Krieges zu helfen.
    In einem

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