Hundert Jahre Einsamkeit
bestimmten Augenblick wäre Oberst Gerineldo Márquez in der Tat der einzige gewesen, der auch in seinem Schaukelstuhl eines Gelähmten die verschimmelten Stränge des Aufstands in Bewegung zu setzen vermocht hätte. Während Oberst Aureliano Buendía sich nach dem Waffenstillstand von Neerlandia in die Verbannung seiner goldenen Fischchen geflüchtet hatte, war er mit den aufständischen Offizieren, die ihm bis zur Niederlage die Treue gehalten hatten, in ständiger Berührung geblieben. Mit ihnen führte er nun den trostlosen Krieg der täglichen Erniedrigung, der Bittgesuche und der Denkschriften, des »Kommen Sie morgen wieder«, des »Es ist fast soweit«, des »Wir prüfen Ihren Fall mit gebührender Aufmerksamkeit«; mit ihnen führte er den hoffnungslosen, verlorenen Krieg gegen »Ihre höchst aufmerksamen, zuverlässigen Diener«, welche die Gewährung der lebenslänglichen Pension unterschreiben sollten und doch nie unterschrieben. Der alte, der blutige Krieg von zwanzig Jahren hatte sie nicht so mitgenommen wie der zermürbende Krieg des ewigen Aufschubs. Selbst Oberst Gerineldo Márquez, der drei Attentaten entkommen war, der fünf Verletzungen überlebt hatte und aus ungezählten Schlachten unversehrt hervorgegangen war, hielt dem grausamen Ansturm des Wartens nicht stand, erlag dem Elend des Alters und dachte dabei zwischen den Lichtrauten eines geliehenen Hauses an Amaranta. Die letzten Veteranen, von denen es noch Kunde gab, erschienen auf einem Zeitungsfoto mit empört erhobenem Blick neben einem namenlosen Präsidenten der Republik, der ihnen eine Medaille mit seinem Konterfei fürs Knopfloch und eine blut- und pulververschmierte Fahne für ihr Grab schenkte. Die anderen, würdigeren, warteten im Schatten der öffentlichen Mildtätigkeit noch immer auf einen Brief und starben währenddessen vor Hunger, überlebten aus Wut und vermoderten altersschwach in der kostbaren Scheiße des Ruhms. Als Oberst Aureliano Buendía sie daher aufforderte, einen tödlichen Brand zu entfachen, der mit jeder Spur eines von ausländischen Eindringlingen aufrechterhaltenen Regimes der Bestechlichkeiten und Ärgernisse aufräumte, konnte Oberst Gerineldo Márquez nicht ein Zittern des Mitleids unterdrücken.
»Ach, Aureliano«, seufzte er, »ich wußte ja, daß du alt bist, aber jetzt merke ich, daß du viel älter bist, als du aussiehst.«
Im Trubel der letzten Jahre hatte Ursula nur wenig Muße gefunden, sich um José Arcadios Ausbildung für das Amt des Papstes zu kümmern, als dieser in aller Eile für die Übersiedlung ins Seminar vorbereitet werden mußte. Seine zwischen Fernandas Strenge und Amarantas Bitterkeit hin und her gezerrte Schwester Meme erreichte fast zur gleichen Zeit das Alter für die Klosterschule, in der die Nonnen aus ihr eine Klavichordvirtuosin machen würden. Ursula hegte schwere Zweifel hinsichtlich der Methoden, mit denen sie den Geist des trägen Lehrlings für das Amt des Papstes geschult hatte, schob die Schuld jedoch weder auf ihr wankelmütiges Alter noch auf die Nebelschwaden, die sie nur den Umriß der Dinge erkennen ließen, sondern auf etwas, was sie selbst nicht zu bestimmen vermochte und doch undeutlich als fortschreitenden Verschleiß der Zeit erkannte. »Die Jahre von heute sind nicht mehr wie die von einst«, pflegte sie zu sagen im Gefühl, die Alltagswirklichkeit entgleite ihren Händen. Früher — so dachte sie — wuchsen die Kinder sehr langsam heran. Sie brauchte nur an all die Zeit zu denken, die notwendig gewesen war, damit José Arcadio, der älteste, mit den Zigeunern fortzog, und an all das, was geschehen mußte, bevor er wie eine Kreuzotter bemalt zurückkehrte und wie ein Astronom redete, und an die Dinge, die im Hause geschahen, bevor Amaranta und Arcadio die Sprache der Indios vergaßen und Spanisch lernten. Man brauchte nur all die Sonne und den Nachttau zu bedenken, die der arme José Arcadio Buendía unter der Kastanie erduldet hatte, und all die Zeit, während der es seinen Tod zu beweinen galt, bevor man einen Oberst Aureliano Buendía zu Grabe trug, der nach so viel Krieg und nach so viel Leiden noch nicht das Alter von fünfzig Jahren erreicht hatte. Einst, nachdem sie einen langen Tag mit der Herstellung von Karamel verbracht hatte, blieb ihr noch Zeit übrig, um sich der Kinder anzunehmen, um im Weiß ihrer Augen zu sehen, ob sie eine Portion Rizinusöl nötig hatten. Jetzt hingegen, wenn sie nichts zu tun hatte und José
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