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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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zitterten und ihre Füße ihr immer schwerer wurden, war ihre geschrumpfte Gestalt nie an so vielen Orten gleichzeitig gesehen worden. Sie war fast so geschäftig wie zu der Zeit, als sie die ganze Last des Hauses getragen hatte. Im übrigen verfügte sie in der undurchdringlichen Einsamkeit ihrer Altersschwäche über so viel Hellsicht, um die unbedeutendsten Familienereignisse zu überprüfen, daß sie zum erstenmal deutlich die Wahrheiten sah, die frühere Obliegenheiten ihr verhüllt hatten. In der Zeit, in der José Arcadio fürs Seminar vorbereitet wurde, hatte sie das Leben des Hauses seit Macondos Gründung bis ins kleinste durchdacht und dabei ihre bisherige Meinung über ihre Abkömmlinge durchgehend geändert. Dabei stellte sie fest, daß Oberst Aureliano Buendía seine Zuneigung zur Familie nicht wegen der Verschärfung des Krieges verloren hatte, wie sie vorher geglaubt hatte, sondern daß er nie jemanden geliebt hatte, nicht einmal seine Gattin Remedios oder die ungezählten Ein-Nacht-Frauen, die durch sein Leben gegangen waren, und noch viel weniger seine Söhne. Sie begriff mit einemmal, daß er nicht aus Idealismus so viele Kriege geführt hatte, wie alle Welt glaubte, daß er nicht aus Müdigkeit auf den bevorstehenden Sieg verzichtet hatte, wie alle Welt glaubte, sondern daß er aus demselben Anlaß, aus reiner, sündiger Hoffart gewonnen und verloren hatte. Sie kam zu dem Schluß, daß jener Sohn, für den sie ihr Leben gegeben hätte, einfach ein liebesunfähiger Mensch war. Eines Nachts, als sie ihn noch im Leibe trug, hatte sie ihn weinen gehört. Es war eine so deutliche Klage, daß José Arcadio Buendía neben ihr erwachte und Gefallen fand an dem Gedanken, sein Sohn werde ein Bauchredner werden. Andere Personen sahen ihn als Wahrsager. Sie hingegen erzitterte bei der Gewißheit, das tiefe Gejammer sei ein erstes Anzeichen des schrecklichen Schweineschwanzes, und sie bat Gott, er möge das Kind in ihrem Leib sterben lassen. Doch nun gewährte die Altershellsicht ihr die wiederholte Erkenntnis, daß ein im Mutterleib weinendes Kind kein Anzeichen von Bauchredner- oder Wahrsagekunst sei, sondern ein untrügliches Zeichen für Liebesunfähigkeit. Und dieses entwertete Bild ihres Sohnes erweckte in ihr mit einem Schlag all das Mitleid, das sie ihm schuldete. Amaranta hingegen, deren Herzenshärte sie entsetzte, deren besessene Bitterkeit sie verbitterte, erkannte sie letzten Endes als die zartfühlendste Frau, die je gelebt hatte, und sie begriff mit mitleidiger Klarsicht, daß weder die ungerechten Quälereien, die Pietro Crespi durch sie erduldet hatte, von Rachsucht diktiert waren, wie alle Welt glaubte, noch das langsame Martyrium, zu dem sie das Leben des Obersten Gerineldo Márquez verurteilt hatte, von ihrer bösen Gallenbitternis bestimmt worden war, wie alle Welt glaubte, sondern daß beide Handlungen ein Kampf auf Leben und Tod zwischen maßloser Liebe und unbezwinglicher Feigheit gewesen waren und daß schließlich Amarantas stetige irrationale Angst über ihr eigenes, gemartertes Herz triumphiert hatte. Zu jener Zeit begann Ursula Rebeca mit Namen zu nennen und sie sich mit alter, aus später Reue und plötzlicher Bewunderung gesteigerter Liebe wachzurufen, weil sie begriffen hatte, daß Rebeca allein, die sich nie von ihrer Milch ernährt hatte, sondern von der Erde der Erde und dem Kalk der Wände, daß sie, in deren Adern kein Blut aus ihren Adern floß, sondern das unbekannte Blut jener Unbekannten, deren Gebeine nach wie vor im Grabe klapperten, daß diese Rebeca mit dem ungeduldigen Herzen, mit dem ungeduldigen Leib als einzige den hemmungslosen Mut besessen hatte, den Ursula sich für ihre Sippe gewünscht hätte.
    »Rebeca«, sagte sie, die Wände betastend, »wie ungerecht sind wir gegen dich gewesen.«
    Im Hause glaubte man natürlich, sie phantasiere, besonders seit sie mit erhobenem Arm umherging wie der Erzengel Gabriel. Fernanda indessen merkte, daß eine Sonne der Hellsicht über dem Schatten dieses Fieberwahns lag, denn Ursula konnte ohne Zaudern bekanntgeben, wieviel Geld im vergangenen Jahr für den Haushalt ausgegeben worden war. Amaranta kam auf den gleichen Gedanken, als ihre Mutter eines Tages in der Küche beim Umrühren der Suppe plötzlich, ohne zu wissen, daß man ihr zuhörte, sagte, die Maismühle, die man den ersten Zigeunern abgekauft habe und die verschwunden war, noch bevor José Arcadio die Welt zum fünfundsechzigstenmal umschifft hatte, befinde sich

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