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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Arcadio von morgens bis abends auf ihrer Hüfte reiten ließ, zwang die schlechte Beschaffenheit der Zeit sie dazu, die Dinge nur halb zu tun. Tatsächlich weigerte Ursula sich jetzt, wo sie die Zahl ihrer Jahre bereits vergessen hatte, zu altern; sie störte überall, wo sie auftauchte, steckte ihre Nase in alles hinein und lag den Ausländern in den Ohren, ob sie ihr nicht während der Kriegsjahre einen Sankt Joséph aus Gips zur Aufbewahrung bis nach der Regenzeit übergeben hätten. Niemand wußte genau, wann ihr Augenlicht nachzulassen begonnen hatte. Noch in ihren letzten Jahren, als sie schon nicht mehr aus dem Bett aufstehen konnte, wirkte sie einfach altersschwach, doch niemand entdeckte, daß sie erblindet war. Sie selber hatte es schon vor José Arcadios Geburt bemerkt. Anfangs glaubte sie, es handele sich um eine vorübergehende Schwäche, nahm heimlich Marksaft und träufelte sich Bienenhonig in die Augen, doch sehr bald überzeugte sie sich, daß sie so rettungslos in der Finsternis versank, daß sie nie eine genauere Vorstellung von der Erfindung des elektrischen Lichts gewann, da sie nach dem Anbringen der ersten Glühbirnen nur einen vagen Schimmer gewahrte. Sie sagte es niemandem, denn damit hätte sie vor aller Öffentlichkeit zugegeben, daß sie unbrauchbar geworden war. So erlegte sie sich eine stumme Lehrzeit der Entfernungen, der Dinge und der menschlichen Stimmen auf, um mit der Erinnerung zu sehen, was der Schatten des grauen Stars ihr vernebelte. Später entdeckte sie die unvorhergesehene Hilfe der Gerüche, die sich in der Finsternis überzeugender offenbarten als Umrisse und Farben und die sie aus der Schande der Selbstaufgabe retteten. Im Dunkel des Zimmers verstand sie, die Nadel einzufädeln und ein Knopfloch zu nähen, sie wußte, wann die Milch überkochte. Sie kannte mit so großer Sicherheit den Ort, an dem sich jeder Gegenstand befand, daß sie selbst bisweilen vergaß, daß sie blind war. Einmal stellte Fernanda das Haus auf den Kopf, weil sie ihren Ehering verloren hatte, und Ursula fand ihn auf einem Bord des Kinderschlafzimmers. Während die anderen sich sorglos durchs Haus bewegten, überwachte sie sie mit ihren vier Sinnen, um nie überrascht zu werden, und entdeckte nach einiger Zeit, daß jedes Familienmitglied tagtäglich, ohne es zu merken, die gleichen Gänge, die gleichen Verrichtungen und zur gleichen Stunde fast die gleichen Wörter wiederholte. Erst wenn sie von dieser kleinlichen Routine abwichen, liefen sie Gefahr, etwas zu verlieren. Als Ursula daher Fernandas Ratlosigkeit wegen des verlorenen Eherings bemerkte, fiel ihr ein, daß Fernandas einzige aus dem Rahmen fallende Handlung an jenem Tag das Lüften der Kindermatten gewesen war, weil Meme in der voraufgegangenen Nacht eine Wanze entdeckt hatte. Da die Kinder beim Saubermachen dabei waren, dachte Ursula, Fernanda müsse ihn an den einzigen für die Kinder unerreichbaren Ort gelegt haben: auf das Wandbord. Fernanda dagegen suchte ihn nur auf den Spuren ihres täglichen Ganges, ohne zu wissen, daß die Suche verlorener Dinge von Alltagsgewohnheiten gehemmt wird und es daher so schwer ist, sie wiederzufinden. José Arcadios Erziehung half Ursula bei ihrer ermüdenden Aufgabe, über die geringsten Veränderungen auf dem laufenden zu bleiben. Als sie merkte, daß Amaranta die Heiligengestalten des Schlafzimmers anzog, tat sie so, als lehre sie das Kind die Farbunterschiede.
    »Laß mal sehen«, sagte sie, »und erzähl mir, welche Farbe der heilige Erzengel Raffael trägt.«
    Auf diese Weise lieferte der Kleine ihr die Nachrichten, die ihre Augen ihr vorenthielten, und lange bevor er ins Seminar ging, konnte Ursula mit Hilfe des Stoffs die verschiedenen Farben der Heiligengewänder unterscheiden. Bisweilen gab es unvorhergesehene Unfälle. Eines Nachmittags stickte Amaranta in der Begonienveranda, und Ursula stieß mit ihr zusammen.
    »Um Himmels willen«, brummte Amaranta, »passen Sie doch auf, wohin Sie gehen.«
    »Du sitzt an einem Platz, an dem du nichts zu suchen hast«, gab Ursula zurück.
    Für sie war es so. An jenem Tag indessen gewahrte sie etwas, was niemand entdeckt hatte: Die Sonne veränderte im Laufe des Jahres kaum merklich ihre Bahn, so daß der, der sich in die Veranda setzte, nach und nach seinen Platz verändern mußte, ohne es zu merken. Fortan brauchte Ursula sich nur an das Datum zu erinnern, um die genaue Stelle zu wissen, an der Amaranta saß. Obgleich ihre Hände immer sichtbarer

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