Hundert Jahre Einsamkeit
noch immer in Pilar Terneras Haus. Gleichfalls fast hundertjährig, jedoch wohlauf und behende trotz ihrer unglaublichen Schwammigkeit, welche die Kinderschar erschreckte, wie ihr Lachen einst die Tauben erschreckt hatte, wunderte Pilar Ternera sich nicht über Ursulas Denkschärfe, weil ihre eigene Erfahrung ihr anzuzeigen begann, daß ein waches Alter scharfsinniger sein kann als die Befunde der Kartenspiele.
Als Ursula indessen merkte, die Zeit habe ihr nicht ausgereicht, um José Arcadios Berufung zu unterbauen, befiel sie Mutlosigkeit. Sie begann Irrtümer zu begehen und suchte mit den Augen zu sehen, was Intuition ihr deutlicher zu erkennen gegeben hätte. Eines Morgens schüttete sie im Glauben, es sei Blumenwasser, den Inhalt eines Tintenfasses dem Kind über den Kopf. Ihre Sucht, sich in alles einzumischen, führte zu so vielen Zusammenstößen, daß sie häufig von Übellaunigkeit heimgesucht wurde und das Dunkel zu durchbrechen suchte, mit dem man sie schließlich wie mit einem Spinnennetz zu umgarnen suchte. Nun merkte sie, daß ihre Ungeschicklichkeit nicht der erste Sieg der Altersschwäche und der Dunkelheit war, sondern ein Versagen der Zeit. Sie dachte, früher, als Gott nicht so heftig mit Monaten und Jahren betrogen hatte, wie es die Türken beim Abmessen eines Meters Perkai taten, sei eben alles anders gewesen. Jetzt wuchsen nicht nur die Kinder rascher heran, auch die Gefühle entwickelten sich anders. Kaum war Remedios die Schöne mit Leib und Seele zum Himmel aufgefahren, als die rücksichtslose Fernanda in den Ecken nörgelte, jene habe die Leintücher mitgenommen. Kaum waren die Leiber der Aurelianos in ihren Gräbern erkaltet, sah Aureliano Segundo bereits zum zweitenmal sein Haus erleuchtet und besetzt von Trunkenbolden, die Akkordeon spielten und sich in Champagner badeten, als seien nicht Christen gestorben, sondern Hunde, als sei dieses Haus von Verrückten, das so viele Kopfschmerzen und so viele Karameltierchen gekostet hatte, dazu bestimmt, ein Misthaufen der Verworfenheit zu werden. Daran denkend, während José Arcadios Reisetruhe vorbereitet wurde, fragte Ursula sich, ob es nicht besser sei, sich ein für allemal ins Grab zu legen, sich mit Erde zudecken zu lassen, und furchtlos fragte sie Gott, ob Er wirklich glaube, die Menschen seien aus Eisen, um die vielen Kümmernisse und Demütigungen auszuhalten; und während sie fragte und fragte, fachte sie ihre eigene Verbitterung nur immer heftiger an und fühlte den unwiderstehlichen Drang, sich wie ein Ausländer Luft zu machen und sich endlich einen Augenblick der Auflehnung zu gönnen, jenen so oft begehrten und so oft verschobenen Augenblick, sich die Entsagung in den Hintern zu schieben und einmal auf alles zu scheißen und ihr Herz von dem riesigen Haufen von Schimpfwörtern zu entlasten, die sie während eines ganzen Jahrhunderts des Einverständnisses hatte hinunterschlucken müssen.
»Scheiße!« schrie sie.
Amaranta, die Wäsche in die Truhe zu legen begann, glaubte, sie sei von einem Skorpion gestochen worden.
»Wo ist er?« fragte sie bestürzt.
»Wer?«
»Das Tier!« erklärte Amaranta.
Ursula deutete mit einem Finger aufs Herz.
»Hier«, sagte sie.
Eines Donnerstags um zwei Uhr nachmittags reiste José Arcadio ab ins Seminar. Ursula sollte sich ihn immer wieder wachrufen, so wie sie ihn beim Abschiednehmen vor sich zu sehen glaubte, träge und ernst und tränenlos, wie sie es ihn gelehrt hatte, vor Hitze halb erstickend in seinem grünen Samtanzug mit Kupferknöpfen und einem gestärkten Band um den Hals. Das Speisezimmer roch noch immer nach dem aufsässigen Duft von Lavendelwasser, das sie ihm auf den Kopf gegossen hatte, um seiner Spur im Hause nachgehen zu können. Während der Dauer des Abschiedsmittagessens tarnte die Familie ihre Unruhe mit fröhlichem Gebaren und feierte mit übertriebener Begeisterung die Bemerkungen Pater Antonio Isabels. Als man aber die samtgefütterte, mit Silberecken beschlagene Truhe fortschleppte, war es, als sei ein Sarg aus dem Hause fortgetragen worden. Der einzige, der sich weigerte, an der Abschiedsfeierlichkeit teilzunehmen, war Oberst Aureliano Buendía.
»Dieser Schwindel hat uns noch gefehlt«, brummte er. »Ein Papst!«
Drei Monate später brachten Aureliano Segundo und Fernanda Meme ins Internat und kehrten mit einem Klavichord zurück, das den Platz des Pianolas einnahm. Zu jener Zeit begann Amaranta ihr eigenes Totenhemd zu weben. Das Bananenfieber hatte sich
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