Hundert Jahre Einsamkeit
Persönlichkeiten zu unterscheiden wußte, erfand er Namen und Bildtexte, um die unersättliche Neugierde der Kinder zu befriedigen.
Fernanda glaubte wahrhaftig, ihr Mann warte nur auf trockenes Wetter, um wieder zu seiner Konkubine zu ziehen. In den ersten Monaten der Regenzeit fürchtete sie, er könne sich womöglich in ihr Schlafzimmer schleichen und sie zu dem beschämenden Geständnis zwingen, daß sie seit Amaranta Ursulas Geburt zu einer Versöhnung unfähig sei. Das war die Ursache für ihren nur durch die zahlreichen Pannen der Post unterbrochenen dringlichen Briefwechsel mit den unsichtbaren Ärzten.
Während der ersten Monate, als man von Zügen erfuhr, die im Sturm entgleisten, deutete ein Brief der unsichtbaren Ärzte darauf hin, daß die ihren verlorengingen. Später, als die Verbindung mit ihren unbekannten Brieffreunden abriß, dachte sie ernstlich daran, die Tigermaske aufzusetzen, die ihr Mann in dem blutigen Karneval benutzt hatte, um sich unter falschem Namen von den Ärzten der Bananengesellschaft untersuchen zu lassen. Doch eine der vielen Personen, die häufig mißliche Nachrichten von der Sintflut ins Haus brachten, hatte behauptet, die Gesellschaft baue ihre Behandlungsräume ab, um sie in trockenerem Gelände wieder aufzubauen. Nun verlor sie alle Hoffnung und fand sich damit ab, auf das Ende der Regenzeit und regelmäßige Postverbindungen zu warten; mittlerweile erleichterte sie sich ihre geheimen Beschwerden mit Mitteln der Eingebung, da sie lieber gestorben wäre, als sich in die Hände des einzigen Arztes zu begeben, der in Macondo geblieben war, des überspannten Franzosen, der sich von Eselsfutter ernährte. Sie hatte sich an Ursula herangemacht im Vertrauen darauf, daß sie ein Linderungsmittel für ihre inneren Leiden kenne. Doch die quälende Gewohnheit, die Dinge nicht beim Namen zu nennen, führte sie dazu, ein X für ein U zu halten, das Gebären durch das Abführen zu ersetzen und Blutungen mit Brand zu vertauschen, damit alles weniger schamlos klinge, so daß Ursula bündig schloß, ihre Gebrechen beträfen nicht die Gebärmutter, sondern die Eingeweide, und ihr riet, ein Säckchen Calomel auf leeren Magen einzunehmen. Abgesehen von diesem Leiden, das für jemanden, der nicht auch an der Krankheit der Schamhaftigkeit litt, keineswegs schamerregend war, abgesehen vom Verlust der Briefe hätte der Regen Fernanda, für die das ganze Leben letzten Endes eine einzige Regenzeit war, überhaupt nichts ausgemacht. Weder veränderte sie den Stundenplan, noch lockerte sie irgendeinen Ritus. Als der Eßtisch noch auf Backsteinen und die Stühle noch auf Brettern standen, damit die Tischgäste keine nassen Füße bekamen, ließ sie nach wie vor auf Leinentischtüchern und chinesischem Porzellan auftragen und die Kandelaber beim Nachtmahl aufstellen, weil sie der Ansicht war, Naturkatastrophen dürften nicht als Vorwand für den Verfall der Sitten benutzt werden. Niemand hatte sich je wieder auf der Straße blicken lassen. Wäre es auf Fernanda angekommen, hätte es keiner je wieder getan und nicht erst, seit es zu regnen begann, sondern schon viel früher, da sie die Ansicht vertrat, Türen seien erfunden worden, um geschlossen zu sein, und die Neugier nach dem Straßenbetrieb sei Sache von Dirnen. Trotzdem war sie die erste, die hinausschaute, als bekannt wurde, der Leichenzug des Oberst Gerineldo Márquez komme vorbei, wenngleich das, was sie durch das halbgeöffnete Fenster sah, sie so bekümmerte, daß sie lange Zeit ihre Schwäche bereute.
Man hätte sich keine trostlosere Beerdigung denken können. Der Sarg fuhr auf einem Ochsenkarren, über den ein Dach aus Bananenblättern gespannt war, doch das Geprassel des Regens war so stark und die Straßen waren so verschlammt, daß die Räder bei jeder Drehung einsanken und das Verdeck fast einriß. Das auf den Sarg fallende traurige Gepladder durchnäßte die darübergebreitete Fahne — keine andere als die von den würdigsten Veteranen verschmähte blut- und pulverstaubverkrustete Flagge. Auf dem Sarg lag auch der Degen mit kupfer- und seidendurchwirktem Portepee, jener, den er am Kleiderständer des Wohnzimmers aufgehängt hatte, um unbewaffnet Amarantas Nähstube zu betreten. Hinter dem Karren patschten ein paar Barfüßige mit aufgekrempelten Hosen im Dreck, die letzten Überlebenden der Kapitulation von Neerlandia, in der einen Hand eine Viehtreiberstange, in der anderen einen vom Regen entfärbten Papierblumenkranz. In der noch
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