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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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immer nach Oberst Aureliano Buendía benannten Straße glichen sie einer unwirklichen Vision, und alle blickten beim Vorbeigehen das Haus an und bogen um die Ecke des Platzes, wo sie Hilfe erbitten mußten, um den Karren aus dem Matsch zu ziehen. Ursula hatte sich von Santa Sofía von der Frömmigkeit an die Türe tragen lassen. Sie verfolgte mit so großer Aufmerksamkeit die Einzelheiten des Leichenzugs, daß niemand zweifelte, sie sähe alles genau, zumal da ihre erzengelhaft erhobene Verkündigungshand das Auf und Ab des Karrens begleitete.
    »Adiós, Gerineldo, mein Sohn«, schrie sie. »Grüß mir meine Leute und sag ihnen, wir sehen uns, wenn der Regen aufhört.«
    Aureliano Segundo half ihr wieder ins Bett und befragte sie ebenso zwanglos, wie er immer mit ihr geredet hatte, was ihr Abschiedsgruß zu bedeuten habe.
    »Es ist, wie ich sagte«, erwiderte sie. »Ich warte nur noch, daß der Regen aufhört, dann sterbe ich.«
    Der Zustand der Straßen beunruhigte Aureliano Segundo. Zu spät um das Schicksal seiner Tiere besorgt, warf er sich ein Wachstuch über und ging zu Petra Cotes' Haus. Er traf sie im Innenhof bis zur Gürtellinie im Wasser stehend, bemüht, eine Pferdeleiche flottzumachen. Aureliano Segundo half ihr mit einer Eisenstange, und das gewaltige aufgeschwemmte Tier machte eine Kehrtwendung und wurde vom Schlammstrom fortgerissen. Seit dem Beginn des Regens hatte Petra Cotes nichts anderes getan, als ihren Innenhof von toten Tieren freizulegen. In den ersten Wochen sandte sie Aureliano Segundo Botschaften, damit er eilige Vorkehrungen treffe, worauf er antwortete, es hätte keine Eile, die Lage sei nicht beunruhigend, man würde sich etwas einfallen lassen, sobald der Regen aufhöre. Sie ließ ihm sagen, die Gehege seien überschwemmt, das Vieh fliehe in höhergelegenes Gelände, wo es kein Futter finde und dem Tiger und der Pest ausgeliefert sei. »Nichts zu machen«, antwortete Aureliano Segundo. »Neues Vieh wird geboren, sobald es trocknet.« Petra Cotes hatte sie rudelweise verenden sehen und hatte gerade noch Zeit, die zu schlachten, die feststeckten. Sie sah mit dumpfer Ohnmacht, wie die Sintflut erbarmungslos ein Vermögen verschluckte, das einstmals als das größte, solideste von Macondo gegolten hatte und von dem nun nichts als Pestgestank übrig war. Als Aureliano Segundo beschloß, die Lage persönlich zu überprüfen, fand er nur die Pferdeleiche und das Gerippe eines Maulesels unter den Ruinen des Pferdestalls. Petra Cotes sah ihn ohne Überraschung kommen, ohne Freude und ohne Groll, und gestattete sich nur ein spöttisches Lächeln.
    »Du kommst rechtzeitig«, sagte sie.
    Sie war gealtert, knochendürr, und ihre lanzenförmigen Raubtieraugen waren vom langen In-den-Regen-Blicken traurig und zahm geworden. Aureliano Segundo blieb über drei Monate bei ihr, nicht weil er sich dort jetzt wohler gefühlt hätte als in der Familie, sondern weil er all die Zeit zu dem Entschluß brauchte, sich wieder das Stück Wachstuch überzuwerfen. »Es hat keine Eile«, sagte er, wie er es im anderen Haus gesagt hatte. »Hoffen wir, daß es in den nächsten Stunden aufhört.« Im Verlauf der ersten Woche gewöhnte er sich an die Schäden, die Zeit und Regen an der Gesundheit seiner Konkubine angerichtet hatten; denn ganz allmählich sah er sie wieder, wie sie früher gewesen war, und besann sich auf ihre jubelnden Ausschweifungen und die taumelnde Fruchtbarkeit, die ihre Liebe unter den Tieren hervorgerufen hatte; und so weckte er sie eines Nachts in der zweiten Woche, teils aus Liebe, teils aus Berechnung, mit drängenden Liebkosungen. Petra Cotes regte sich nicht. »Schlaf ruhig«, murmelte sie. »Für diese Dinge ist die Zeit vorbei.« Aureliano Segundo sah sich selbst in den Deckenspiegeln, sah Petra Cotes' Rückgrat wie eine auf ein welkes Nervenbündel aufgezogene Spulenreihe und begriff, daß sie recht hatte, nicht etwa wegen der Zeit, sondern ihrer selbst wegen, die sich für dergleichen nicht mehr eigneten.
    Aureliano Segundo kehrte mit seinen Truhen nach Hause zurück, überzeugt, nicht nur Ursula, sondern alle Einwohner Macondos warteten darauf, daß der Regen aufhöre, um zu sterben. Er hatte im Vorübergehen gesehen, wie sie in ihren Wohnzimmern mit versunkenem Blick und verschränkten Armen saßen und fühlten, daß eine Zeit ganz und gar ablief, eine ungerodete Zeit, weil es nutzlos war, sie in Monate und Jahre und die Tage in Stunden aufzuteilen, wo man nichts anderes tun konnte, als

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