Hundert Jahre Einsamkeit
Stunden des Nähens war die Scherenschnur nicht mehr lang genug zum Schneiden, als hätten die Gespenster sie verkürzt. Das gleiche geschah mit der Feder, ja mit ihrem eigenen Arm, der nach kurzem Schreiben nicht mehr bis zum Tintenfaß reichte. Weder Amaranta Ursula in Brüssel noch José Arcadio in Rom erfuhren jemals von diesen belanglosen Mißgeschicken. Fernanda berichtete ihnen, sie sei glücklich, und sie war es auch, eben weil sie sich frei fühlte von jeder Pflicht, als habe das Leben sie von neuem in die Welt ihrer Eltern verpflanzt, wo sie nicht unter Alltagssorgen litt, da diese von vornherein in der Einbildungskraft verscheucht waren. Ihr unablässiger Briefwechsel ließ sie jeden Zeitbegriff verlieren. Vor allem seit Santa Sofía von der Frömmigkeit fort war. Sie hatte sich daran gewöhnt, die Tage, die Monate und die Jahre zu zählen, wobei sie als Bezugspunkte die für die Rückkehr ihrer Kinder vorgesehenen Daten einsetzte. Doch als diese ihre Rückkehr immer wieder hinausschoben, brachte sie die Daten durcheinander, sie verwechselte die Termine, und ihre Tage glichen einander so sehr, daß sie nicht mehr ihren Ablauf spürte. Doch statt ungeduldig zu werden, fand sie großen Gefallen an den Verzögerungen. Es beunruhigte sie nicht, daß viele Jahre, nachdem er ihr verkündet hatte, er stehe am Vorabend seiner Ordinierung, José Arcadio noch immer behauptete, er hoffe sein Theologiestudium zu beenden, um anschließend Diplomatie zu studieren, denn sie begriff, daß die Wendeltreppe, die zu Sankt Peters Stuhl führt, hoch und hindernisreich sein müsse. Dagegen geriet ihr Gemüt in Wallung bei Nachrichten, die für andere belanglos gewesen wären, wie bei der, ihr Sohn habe den Papst gesehen. Sie freute sich ebenso, als Amaranta Ursula ihr mitteilte, ihre Studien zögen sich länger als vorgesehen hinaus, weil ihre ausgezeichneten Prüfungsergebnisse ihr Vorrechte einbrächten, die ihr Vater in seinen Berechnungen nicht berücksichtigt hatte.
Als es Aureliano gelang, das erste Pergament zu übersetzen, waren über drei Jahre verflossen, seit Santa Sofía von der Frömmigkeit ihm die Grammatik gebracht hatte. Zwar war es keine unnütze Arbeit, sie stellte indes nur den ersten Schritt auf einem Weg dar, dessen Länge nicht abzusehen war, weil der spanische Wortlaut nichts bedeutete: es waren chiffrierte Verse. Aureliano fehlten alle Elemente zur Entschlüsselung der Texte, doch da Melchíades ihm gesagt hatte, daß die Bücher zur Enträtselung der Pergamente im Laden des katalanischen Weisen zu finden seien, beschloß er, Fernanda um Erlaubnis zu bitten, sie zu holen. In seinem Zimmer, das von dem Schutt, dessen unaufhaltsamer Vormarsch ihn schließlich bezwungen hatte, fast zerstört war, dachte er über die geeignete Form nach, in der er sein Anliegen vorbringen werde, sah Umstände voraus, überlegte die beste Gelegenheit, doch als er Fernanda traf, wie sie ihr Mittagessen vom Herd holte, was die einzige Möglichkeit zu einem Zwiegespräch war, verhedderte er sich in seiner so sorgfältig ausgearbeiteten Bitte, und seine Stimme versagte ihren Dienst. Nun belauerte er sie in ihrem Schlafzimmer. Er belauschte sie, wenn sie zur Tür ging, um die Briefe ihrer Kinder in Empfang zu nehmen und die ihren dem Briefträger auszuhändigen, und hörte bis tief in die Nacht den harten, leidenschaftlichen Strich ihrer Feder auf dem Papier, bis er das Geräusch des Lichtschalters vernahm und das Gemurmel ihrer Gebete in der Dunkelheit. Erst dann schlief er ein, darauf vertrauend, daß der folgende Tag ihm die erhoffte Gelegenheit schenken werde. Er lebte dermaßen von der Illusion, die Erlaubnis könne ihm verweigert werden, daß er sich eines Morgens das schon auf die Schultern herabfallende Haar schnitt, sich seinen verfilzten Bart abrasierte, ein Paar enge Hosen anzog und dazu ein Hemd mit aufsetzbarem Kragen, das er von Gott weiß wem geerbt hatte, und in der Küche wartete, daß Fernanda zum Frühstück käme. Es kam aber nicht die Frau aller Tage, jene mit erhobenem Haupt und versteinertem Gang, sondern eine Greisin von übernatürlicher Schönheit mit einem vergilbten Hermelincape, einer vergoldeten Kartonkrone und dem schmachtenden Gebaren eines Menschen, der heimlich geweint hat. In der Tat hatte Fernanda, seit sie das mottenzerfressene Königinkostüm in Aureliano Segundos Truhen gefunden hatte, es immer wieder angelegt. Wer sie, berauscht von ihren monarchischen Gebärden, vor ihrem Spiegel gesehen
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