Hundert Jahre Einsamkeit
dritten Seite hielt er inne und musterte Aureliano, als erkenne er ihn erst jetzt.
»Nun«, sagte er mit einer Stimme, scharf wie ein Rasiermesser, »du bist also ein Bastard.«
»Ich bin Aureliano Buendía.«
»Geh in dein Zimmer«, sagte José Arcadio.
Aureliano ging und kam nicht einmal aus Neugierde wieder heraus, als er die Geräusche des einsamen Begräbnisses vernahm. Mitunter sah er von der Küche aus José Arcadio mit seinem keuchenden Atem, der ihn fast erstickte, durchs Haus wandern und lauschte seinen durch die zerfallenen Schlafzimmer schleichenden Schritten, wenn Mitternacht vorüber war. Viele Monate hindurch hörte er keinen Ton seiner Stimme und nicht nur, weil José Arcadio nicht das Wort an ihn richtete, sondern weil er erstens keine Lust zum Sprechen verspürte und zweitens an nichts anderes denken konnte als an die Pergamente. Bei Fernandas Tod hatte er das vorletzte Fischchen hervorgeholt und war in die Buchhandlung des katalanischen Weisen gegangen, um die ihm noch fehlenden Bücher zu suchen. Nichts, was er unterwegs sah, ging ihn an, vielleicht weil ihm zu Vergleichen Erinnerungen fehlten. Auch waren die verlassenen Straßen und die verödeten Häuser genau so, wie er sie sich in einer Zeit vorgestellt hatte, als er seine Seele hingegeben hätte, um sie kennenzulernen. Er hatte sich selbst die ihm von Fernanda verweigerte Erlaubnis erteilt, und nur einmal, mit einem einzigen Ziel, legte er so rasch wie möglich und ohne anzuhalten die elf Blocks zurück, die sein Haus von dem Gäßchen trennte, wo Träume gedeutet wurden, und trat atemlos in das vollgestopfte düstere Gewölbe, in dem man sich kaum umdrehen konnte. Der Ort glich weniger einer Buchhandlung als einem Müllhaufen alter Bücher, wahllos auf termitenzerfressene Wandborde aufgereiht, in spinnwebüberzogenen Ecken aufgehäuft und sogar in den für die Besucher vorgesehenen Gängen gestapelt. Auf einem mächtigen, gleichfalls von gewaltigen Wälzern beladenen Tisch schrieb der Inhaber unermüdlich in maulbeerfarbener, taumeliger Handschrift auf lose Schulheftblätter. Er hatte eine wundervolle Silbermähne, die ihm wie der Federbusch eines Kakadus in die Stirn hing, und seine blauen, lebhaften und engstehenden Augen offenbarten die Gefügigkeit eines Menschen, der alles gelesen hat. Er war in Unterhosen, schweißbedeckt, und sein Blick wich nicht von seiner Schrift, um zu sehen, wer gekommen war. Aureliano hatte keine Schwierigkeiten, aus all dem fabelhaften Durcheinander die fünf Bücher zu fischen, die er suchte, da sie genau an der von Melchíades bezeichneten Stelle lagen. Ohne ein Wort überreichte er sie mitsamt dem goldenen Fischchen dem katalanischen Weisen, und dieser prüfte sie, und seine Brauen zogen sich wie Miesmuscheln zusammen. »Du mußt verrückt sein«, sagte er achselzuckend in seiner Sprache und gab Aureliano die fünf Bücher mitsamt dem Fischchen zurück.
»Nimm sie mit«, sagte er auf spanisch. »Der letzte Mensch, der diese Bücher gelesen hat, dürfte Isaak der Blinde gewesen sein. Drum überleg dir, was du tust.«
José Arcadio richtete Memes Schlafzimmer wieder her, ließ die Samtvorhänge und den Damastbaldachin des vizeköniglichen Betts ausbessern und setzte das verwahrloste Bad, dessen Zementzisterne von einer zähen, faserigen Schicht verdunkelt war, wieder instand. Auf diese beiden Räume beschränkte sich sein Talmireich aus verschlissenem exotischem Plunder, falschen Parfüms und billigem Straß. Das einzige, was ihn im restlichen Haus zu stören schien, waren die Heiligen des Hausaltars, die er eines Nachmittags auf einem Reisigfeuer im Innenhof zu Asche verbrannte. Er schlief bis nach elf Uhr, dann ging er in einem mit goldenen Drachen geschmückten zerfetzten Hemd und in mit gelben Pompons verzierten Pantoffeln ins Bad, und dort hielt er einen Ritus ab, der in seiner ängstlichen Genauigkeit und Dauer an den von Remedios der Schönen erinnerte. Bevor er ins Bad stieg, aromatisierte er die Wanne mit Salzen, die er in drei Alabasterflakons mitgebracht hatte. Er nahm keine Waschungen mit dem Totumakürbis vor, sondern tauchte in dem duftenden Wasser unter und, eingeschläfert von der K ühle und von der Erinnerung an Amaranta, ruhte er darin bis zu zwei Stunden auf dem Rücken. Wenige Tage nach seiner Ankunft legte er den Taftanzug — der einzige und überdies für das Dorf zu heiße Anzug, den er besaß — ab und vertauschte ihn mit enganliegenden, ähnlich den von Pietro Crespi im
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