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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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hätte, würde sie für verrückt gehalten haben. Aber sie war es nicht. Sie hatte nur den königlichen Prunk zu einer Erinnerungsmaschine gemacht. Das erste Mal, als sie ihn anlegte, konnte sie nicht verhindern, daß sich ihr Herz verkrampfte, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten, denn in diesem Augenblick spürte sie wieder den Geruch der frisch gewichsten Schaftstiefel des Soldaten, der sie aus ihrem Haus holte, um sie zur Königin zu krönen, und ihre Seele versteinerte sich aus Sehnsucht nach ihren verlorenen Träumen. Sie fühlte sich so alt, so vernichtet, so fern von den besten Stunden ihres Lebens, daß sie sogar die herbeisehnte, deren sie sich als der schlimmsten erinnerte, und erst jetzt entdeckte sie, wie sehr ihr die Oreganodüfte der Veranda fehlten, der Hauch der Rosensträucher gegen Abend, ja das derbe Benehmen der ausländischen Besucher. Ihr veraschtes Herz, das ohne zu wanken den gezieltesten Schlägen der Alltagswirklichkeit widerstanden hatte, erlag dem ersten Ansturm der Sehnsucht. Die Notwendigkeit, Trauer zu fühlen, wurde für sie zu einem desto größeren Laster, je schlimmer die Jahre sie verwüsteten. Immerhin machte die Einsamkeit sie menschlicher. Als sie aber eines Morgens in die Küche trat und ein knochiger, bleicher Jüngling mit wirr funkelnden Augen ihr eine Tasse Kaffee anbot, fühlte sie sich von Lächerlichkeit gepeinigt. So verweigerte sie ihm nicht nur die Erlaubnis, sondern verwahrte auch noch die Hausschlüssel in der Tasche, in der sie die unbenutzten Pessare versteckt hielt. Das war eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme, denn hätte er es gewünscht, Aureliano hätte beliebig ungesehen aus dem Hause schlüpfen und wieder hereinschleichen können. Doch die ausgedehnte Gefangenschaft, die Unsicherheit, die Gewohnheit zu gehorchen, hatten in seinem Herzen die Saat des Aufruhrs verdorrren lassen. So kehrte er denn in seine Klausur zurück, las und überlas die Pergamente und hörte bis in die tiefe Nacht hinein Fernandas Schluchzen. Eines Morgens entfachte er wie gewöhnlich den Herd und fand in der erloschenen Glut das Essen, das er am vorhergehenden Tag für sie bereitgestellt hatte. Nun ging er in ihr Schlafzimmer und sah sie auf dem Bett ausgestreckt, mit dem Hermelincape zugedeckt, schöner denn je, mit einer zu einer Elfenbeinschale verwandelten Haut.
    Als José Arcadio vier Monate später zurückkehrte, fand er sie unversehrt vor.
    Ein seiner Mutter ähnlicherer Mensch war undenkbar. Er trug einen Anzug aus Trauertaft, ein Hemd mit rundem, gestärktem Kragen und statt der Krawatte ein schmales, zu einer Schleife geschlungenes Seidenband. Er war aschfahl, schmachtend, hatte einen ratlosen Blick und weichliche Lippen. Das in der Mitte des Schädels durch eine gerade, blutleere Linie gescheitelte schwarze, glänzende, glatte Haar hatte das gleiche künstliche Aussehen wie das Haar der Heiligen. Der Schatten seines gutrasierten Bartes in dem Paraffingesicht schien eine Gewissensfrage zu sein. Er hatte bleiche, grüngeäderte Hände mit Schmarotzerfingern und trug am linken Zeigefinger einen mit einem runden Opal geschmückten Ring aus massivem Gold. Als er die Haustüre öffnete, hätte Aureliano nicht zu raten brauchen, wer es war, um zu merken, daß er von weither kam. Wo er durchs Haus schritt, blieb ein Duft von Blumenwasser in der Luft hängen, das Ursula ihm als Kind stets auf den Kopf geträufelt hatte, um ihn in ihrer Finsternis finden zu können. Auf eine schwer erklärliche Weise war José Arcadio nach so vielen Jahren des Fortseins noch immer ein furchtbar trauriges und einsames Herbstkind. Er ging unmittelbar ins Schlafzimmer seiner Mutter, wo Aureliano vier Monate lang in der Brunnenröhre seines Großvaters Quecksilber verdampft hatte, um den Leichnam nach Melchíades' Formel zu konservieren. José Arcadio stellte keine Fragen. Er drückte einen Kuß auf die Stirn der Leiche und zog unter dem Saum ihres Rocks die Täschchen hervor, in dem sich die drei unbenutzten Pessare und der Kleiderschrankschlüssel befanden. All das tat er mit unmittelbarer, entschlossener Gebärde, die ganz im Gegensatz stand zu seinem schleppenden Gang. Aus dem Kleiderschrank holte er ein damasziertes, mit dem Familienwappen verziertes Kästchen und fand in dem nach Sandelholz duftenden Innern den umfangreichen Brief, in dem Fernanda ihr Herz von den ihm verheimlichten unzählbaren Wahrheiten entlastet hatte. Er las ihn stehend, begierig, jedoch ohne Ungeduld, aber auf der

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