Hundert Jahre Einsamkeit
solcher Genauigkeit gleichzuschalten verstand, daß das Dorf sich jede halbe Stunde an den fortschreitenden Akkorden eines einzigen Stückes erfreute, bis mit dem vollständigen Walzer der Höhepunkt eines genauen, einstimmigen Mittags erreicht war. Es war auch José Arcadio Buendía, der in jenen Jahren entschied, in den Dorfgassen seien Mandelbäume statt Akazien zu säen, und der die niemandem offenbare Methode entdeckte, sie ewig zu machen. Viele Jahre später, als Macondo eine Siedlung weißblechgedeckter Holzhäuser war, standen noch in den ältesten Gassen die verkommenen, staubigen Mandelbäume, wenngleich niemand wußte, wer sie gesät hatte. Während sein Vater Ordnung im Dorf schuf und seine Mutter mit ihrer wunderbaren Industrie von Zuckerhähnen und -fischen, die, auf Rohrstöcke gespießt, zweimal täglich das Haus verließen, den Hausbesitz mehrte, verbrachte Aureliano endlose Stunden in dem verlassenen Laboratorium und erlernte auf dem reinen Forschungswege die Kunst der Silber- und Goldschmiedearbeit. Er war so schnell gewachsen, daß er nach kurzer Zeit die von seinem Bruder zurückgelassene Kleidung ablegte und die väterliche anzuziehen begann, doch mußte Visitación Falten in die Hemden und Säume in die Hosen nähen, weil Aureliano nicht die Schwerleibigkeit der anderen geerbt hatte. Die Jünglingszeit hatte ihm die Weichheit der Stimme geraubt und ihn überdies wieder schweigsam und einsam gemacht, hatte ihm aber dafür den tiefen Ausdruck der Augen wiedergegeben, den er bei der Geburt gehabt hatte. Er war derart vertieft in seine Goldschmiedeversuche, daß er das Laboratorium nur zu den Mahlzeiten verließ. Über seine Vereinsamung besorgt, gab José Arcadio Buendía ihm die Hausschlüssel und etwas Geld, weil er dachte, daß ihm vielleicht eine Frau fehle. Doch Aureliano gab das Geld für Salzsäure aus, um Königswasser herzustellen, und verschönte die Schlüssel in einem Goldbad. Seine Übertreibungen waren nur mit denen von Arcadio und Amaranta zu vergleichen, die bereits die Milchzähne verloren und noch den ganzen Tag am Rockzipfel der Indios hingen, hartnäckig gewillt, kein Spanisch und nur die Guajira-Sprache zu sprechen. »Du brauchst dich nicht zu beklagen«, sagte Ursula zu ihrem Mann. »Die Kinder erben die Narrheiten der Eltern.« Und während sie ihr böses Geschick beklagte, überzeugt, daß die Überspanntheiten ihrer Söhne ebenso schlimm seien wie ein Schweineschwänzchen, heftete Aureliano einen Blick auf sie, der sie ins Ungewisse stürzte.
»Es wird jemand kommen«, sagte er.
Wie jedes Mal, wenn er eine Prophezeiung äußerte, suchte sie ihn mit ihrer hausbackenen Logik zu entmutigen. Es war normal, daß jemand kam. Dutzende von Fremden zogen Tag für Tag durch Macondo, ohne Unruhe zu erwecken oder sich im voraus insgeheim anzukündigen. Doch ungeachtet aller Logik war Aureliano seiner Vorahnung sicher.
»Ich weiß nicht, wer es ist«, beharrte er. »Jedenfalls ist der Betreffende bereits unterwegs.«
In der Tat kam am Sonntag Rebeca. Sie war kaum elf Jahre alt. Sie hatte die beschwerliche Reise von Manaure mit etlichen Fellhändlern zurückgelegt, die zwar den Auftrag erhalten hatten, sie mit einem Brief im Hause José Arcadio Buendías abzuliefern, aber nicht genau erklären konnten, wer sie um diesen Gefallen gebeten hatte. Ihr ganzes Gepäck bestand aus der kleinen Wäschetruhe, einem hölzernen, blumenbemalten Schaukelstühlchen und einem Segeltuchsack, der dauernd klock-klock-klock machte und die Knochen ihrer Eltern beherbergte. Der an José Arcadio Buendía gerichtete Brief war in höchst liebevollen Tönen abgefaßt von jemandem, der diesen trotz Zeit und Ferne in lieber Erinnerung bewahrte und sich durch ein urtümliches Gefühl der Menschlichkeit dem Akt der Nächstenliebe verpflichtet fühlte, ihm dieses schutzlose Waisenkind zu schicken, das Ursulas Kusine ersten Grades war und folglich auch eine wiewohl fernere Verwandte José Arcadio Buendías, denn sie war die Tochter des unvergeßlichen Freundes Nicanor Ulloa und seiner hochwohllöblichen Gemahlin Rebeca Montiel, die Gott in sein heiliges Reich aufgenommen hatte und deren sterbliche Reste er mitschickte, damit man ihnen ein christliches Begräbnis gewähre. Die erwähnten Namen wie die Unterschrift des Briefes waren durchaus lesbar, doch weder José Arcadio Buendía noch Ursula erinnerten sich, Verwandte mit diesem Namen gehabt zu haben, auch kannten sie niemanden, der wie der Absender hieß und
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