Hundert Jahre Einsamkeit
schon gar nicht in der entlegenen Ortschaft Manaure. Auch von der Kleinen war keine ergänzende Auskunft zu erhalten. Vom ersten Augenblick ihrer Ankunft an setzte sie sich daumenlutschend in ihr Schaukelstühlchen und beobachtete alle Anwesenden mit ihren großen erschrockenen Augen, ohne zu erkennen zu geben, daß sie verstand, was sie gefragt wurde. Sie trug ein zerschlissenes, schräggestreiftes schwarzes Kleidchen und ein Paar rissige Lacklederstiefeletten. Ihr Haar war hinter den Ohren zu schwarzbebänderten Zöpfen geflochten. Sie trug ein Skapulier mit schweißverwischten Bildern und am rechten Handgelenk einen kupfergefaßten Raubtierzahn als Amulett gegen den bösen Blick. Ihre grünliche Haut, ihr runder und paukenpraller Leib ließen auf eine schlechte Gesundheit und einen Hunger schließen älter als sie selbst, doch als man ihr zu essen gab, hielt sie den Teller auf den Knien fest, ohne von ihm zu kosten. Man vermutete sogar, sie sei taubstumm, bis die Indios sie in ihrer Sprache fragten, ob sie Wasser wolle, und sie bewegte die Augen, als habe sie jene erkannt, und sagte ja mit dem Kopf.
Man nahm sie an, weil es keine andere Lösung gab. Man beschloß, sie Rebeca zu nennen, dem Brief zufolge der Name ihrer Mutter, weil Aureliano die Geduld besessen hatte, ihr das gesamte Kirchenhandbuch vorzulesen, ohne zu erreichen, daß sie auf irgendeinen Heiligennamen einging. Da es zu jener Zeit keinen Friedhof in Macondo gab, da bis dahin niemand gestorben war, bewahrten sie den Knochensack auf in der Erwartung, daß sich ein würdiger Beerdigungsplatz finde, und lange Zeit stand er ihnen denn auch allenthalben im Wege und tauchte da auf, wo man ihn am wenigsten vermutete, immer mit seinem glucksenden Gegacker von Bruthennen. Viel Zeit verging, ehe Rebeca sich im Familienleben zurechtfand. Immer saß sie im entlegensten Winkel des Hauses fingerlutschend auf ihrem Schaukelstühlchen. Nichts fesselte ihre Aufmerksamkeit, ausgenommen die Uhrmusik, die sie jede halbe Stunde mit schreckhaften Augen suchte, als habe sie sie irgendwo in der Luft erwartet. Mehrere Tage lang nötigte man sie vergebens zum Essen. Niemand begriff, daß sie nicht längst Hungers gestorben war, bis die Eingeborenen, die alles merkten, weil sie auf ihren schweigsamen Sohlen unablässig durchs Haus huschten, entdeckten, daß Rebeca nur die feuchte Erde des Innenhofs aß und Kalkkuchen, die sie mit den Fingernägeln von den Wänden kratzte. Es war offensichtlich, daß ihre Eltern oder wer sie aufgezogen hatte, sie wegen dieser Gewohnheit gescholten hatten, denn sie tat es heimlich und schuldbewußt und suchte ihre Rationen zu verstecken, um sie unbeobachtet zu verzehren. Seither unterwarf man sie einer unerbittlichen Überwachung. Man schüttete Kuhgalle in den Innenhof und bestreute die Wände mit pikantem Pfefferstaub im Glauben, mit diesen Maßnahmen ihr das schädliche Laster auszutreiben, doch sie legte bei der Suche nach Eßerde so viel Durchtriebenheit und Erfindungsgabe an den Tag, daß Ursula sich zur Anwendung drastischerer Maßnahmen gezwungen sah. So stellte sie einen Topf mit rhabarbervermischtem Orangensaft die ganze Nacht ins Freie und gab ihr am nächsten Morgen das Gebräu auf leeren Magen zu trinken. Wenngleich ihr niemand gesagt hatte, daß das die besondere Arznei gegen das Laster des Erdessens sei, dachte sie, auf irgendwelchen bitteren Stoff auf leeren Magen müsse die Leber reagieren. Rebeca war trotz ihrer Magerkeit so rebellisch und stark, daß man sie wie ein Kalb festhalten mußte, um ihr die Medizin einzuflößen. Auch wurde man nur mühsam ihres Stampfens Herr und ertrug kaum ihr aufsässiges Kauderwelsch, mit dem sie ihr Beißen und Gespucke unterbrach und das nach den Aussagen der empörten Einheimischen die in ihrer Sprache erdenklich größten Unanständigkeiten waren. Als Ursula das erfuhr, ergänzte sie die Behandlung durch Riemenhiebe. Es wurde nie festgestellt, ob der Rhabarber oder die Schläge die erhoffte Wirkung taten oder etwa beides zusammengenommen, jedenfalls gab Rebeca binnen weniger Wochen die ersten Anzeichen der Besserung. So nahm sie teil an den Spielen Arcadios und Amarantas, die sie wie eine ältere Schwester aufnahmen, aß mit Appetit und bediente sich manierlich der Bestecke. Bald stellte sich auch heraus, daß sie das Spanische mit ebenso großer Leichtigkeit wie die Indiosprache beherrschte, daß sie eine bemerkenswerte Geschicklichkeit in Handarbeiten besaß und den Walzer mit einem
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