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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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höchst anmutigen, selbsterfundenen Wortlaut sang. Binnen kurzem wurde sie als Familienmitglied angesehen. Sie zeigte eine Zuneigung zu Ursula, wie ihre eigenen Kinder es nie getan hatten, und nannte Amaranta und Arcadio Brüderchen und Schwesterchen, Aureliano Onkel und José Arcadio Buendía Großväterchen. So verdiente sie sich schließlich wie die anderen den Namen Rebeca Buendía, den einzigen, den sie je besaß und den sie bis zu ihrem Tod mit Würde tragen sollte. Eines Abends, in der Zeit, als Rebeca vom Laster des Erdessens genas, wachte die Indiofrau, die bei ihnen schlief, zufällig auf und hörte ein seltsames, unregelmäßiges Geräusch im Winkel. Bestürzt richtete sie sich auf im Glauben, ein Tier sei ins Zimmer gedrungen, und nun sah sie Rebeca in ihrem Schaukelstuhl, fingerlutschend und mit leuchtenden Augen wie Katzenaugen im Dunkeln. Von Entsetzen gepackt, gepeinigt vom Verhängnis ihres Schicksals, erkannte Visitación in diesen Augen die Anzeichen der Krankheit, deren Bedrohung sie und ihren Bruder gezwungen hatte, sich für immer aus einem tausendjährigen Reich zu verbannen, in dem sie Fürsten gewesen waren. Es war die Pest der Schlaflosigkeit.
    Cataure, der Indio, erwartete nicht den Morgen im Haus. Seine Schwester blieb, weil ihr schicksalverhaftetes Herz ihr sagte, das tödliche Leiden werde sie auf jeden Fall bis in den letzten Winkel der Erde verfolgen. Niemand begriff Visitacións Bestürzung. »Wenn wir nicht mehr schlafen, um so besser«, sagte José Arcadio Buendía gut gelaunt. »Auf diese Weise wird uns das Leben mehr geben.« Doch die Indiofrau erklärte ihnen, das schlimmste an der Schlaflosigkeitskrankheit sei nicht die Unmöglichkeit, zu schlafen, denn der Körper fühle kein Schlafbedürfnis, sondern die Tatsache, daß sie unweigerlich zu einer weit kritischeren Ausdrucksform führe: zum Vergessen. Mit anderen Worten: sobald der Kranke sich an den Zustand des Wachens gewöhnt habe, begännen seine Kindheitserinnerungen zu verblassen, bald darauf vergesse er seinen Namen und die Bezeichnungen der Dinge, zu guter Letzt den Namen der Menschen und sogar das Bewußtsein des eigenen Ich, bis er einer Art von vergangenheitslosem Stumpfsinn verfalle. José Arcadio Buendía lachte sich halbtot und fand, hier handle es sich um eine der zahllosen, vom Eingeborenenaberglauben erfundenen Gebrechen. Ursula jedenfalls war vorsichtig genug, Rebeca von den anderen Kindern abzusondern.
    Nach Ablauf mehrerer Wochen, als Visitacións Schrecken abgeebbt zu sein schien, ertappte José Arcadio Buendía sich eines Nachts dabei, wie er sich schlaflos im Bett wälzte. Ursula, die gleichfalls erwacht war, fragte, was er habe, und er antwortete: »Ich denke wieder an Prudencio Aguilar.« Zwar taten sie kein Auge mehr zu, fühlten sich jedoch am nächsten Tag so ausgeruht, daß sie die böse Nacht vergaßen. Verwundert erwähnte Aureliano beim Mittagessen, er fühle sich so wohl, obgleich er die ganze Nacht im Laboratorium mit dem Vergolden einer Brosche zugebracht habe, die er Ursula an ihrem Geburtstag zu schenken gedenke. Erst am dritten Tag, als sie beim Schlafengehen keine Müdigkeit spürten, beunruhigten sie sich und machten sich klar, daß sie seit fünfzig Stunden kein Auge geschlossen hatten.
    »Auch die Kinder sind wach«, sagte die Indiofrau mit ihrer schicksalsergebenen Überzeugung. »Wer einmal das Haus betritt, entgeht nicht der Pest.«
    In der Tat hatten sie die Schlaflosigkeitskrankheit bekommen. Ursula, die von ihrer Mutter den Arzneiwert der Pflanzen erlernt hatte, mischte ein Gebräu aus Eisenhut, das alle trinken mußten, doch niemand konnte schlafen, sondern jeder verbrachte den ganzen Tag traumwachend. In diesem Zustand sinnvernebelter Hellsicht sahen sie nicht nur die Bilder der eigenen Träume, sondern die einen sahen auch die Traumbilder der anderen. Es war, als habe sich das Haus mit Besuchern gefüllt. Auf ihrem Schaukelstuhl in einer Küchenecke sitzend, träumte Rebeca, ein ihr sehr ähnlicher Mann in weißem Leinen und in einem am Hals mit einem goldenen Knopf verschlossenen Hemd bringe ihr einen Strauß Rosen. Ihn begleitete eine Frau mit feingliedrigen Händen, die eine Rose herausnahm und sie der Kleinen ins Haar steckte. Ursula begriff, daß der Mann und die Frau Rebecas Eltern waren, doch wenngleich sie sich übermäßig anstrengte, sie zu erkennen, fühlte sie sich in ihrer Gewißheit bestärkt, daß sie das Elternpaar nie gesehen hatte. Mittlerweile wurden die

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