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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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vergessen, erklärte Aureliano ihm seine Methode, und José Arcadio Buendía wandte sie im ganzen Haus an und machte sie später für das ganze Dorf zur Pflicht. Mit einem tintenfeuchten Dorn beschriftete er jedes Ding mit seinem Namen: Tisch , Stuhl , Uhr , Tür , Wand , Bett , Topf . Er ging in den Pferch und zeichnete alle Tiere und Pflanzen: Kuh , Ziegenbock , Schwein , Huhn , Jitkka , Malanga , Bananenbaum . Nach und nach wurde ihm beim Studium der unendlichen Möglichkeiten des Vergessens bewußt, daß man die Dinge eines Tages zwar an ihren Inschriften erkannte, sich jedoch vielleicht nicht mehr an ihre Nützlichkeit erinnerte. Nun wurde er genauer. Das Schild, das er der Kuh um den Hals hing, wurde ein Vorbild für die Art und Weise, nach der Macondos Bewohner gegen das Vergessen anzukämpfen gewillt waren: Das ist die Kuh, die man jeden Morgen melken muß, damit sie Milch gibt, und die Milch muß man aufkochen, um sie mit Kaffee zu mischen und damit Milchkaffee zu machen. So lebten sie in einer schlüpfrigen Wirklichkeit dahin, die sie vorübergehend mit dem Wort festhielten, die ihnen jedoch unrettbar entglitt, sobald sie den Wert des geschriebenen Buchstabens vergaßen.
    Am Eingang zum Moorweg hatte man ein Schild mit der Aufschrift GOTT EXISTIERT aufgestellt. Alle Häuser waren mit Schlüsselwörtern zum Memorieren der Gegenstände und Gefühle beschriftet. Doch das System erforderte so viel Wachsamkeit und so große moralische Stärke, daß viele dem Zauber einer eingebildeten, selbsterfundenen Wirklichkeit anheimfielen, die sie weniger praktisch als tröstlich anmutete. Pilar Ternera trug am meisten zur Verbreitung dieser Vernebelung bei, als sie den Kunstgriff ersann, die Vergangenheit in den Karten zu lesen, so wie sie daraus vorher die Zukunft gelesen hatte. Mit diesem Hilfsmittel begannen die Schlaflosen in einer von der unzuverlässigen Wahl der Kartenspiele erbauten Welt zu leben, in der man sich an den Vater nur wie an den dunkelhäutigen Mann erinnerte, der Anfang April gekommen war, in der man sich an die Mutter nur wie an die brünette Frau erinnerte, die einen goldenen Ring an der linken Hand trug, in der ein Geburtsdatum sich auf den letzten Dienstag beschränkte, an dem die Lerche im Lorbeerbaum gesungen hatte. Von diesen Praktiken der Tröstung vernichtet, beschloß José Arcadio Buendía, die Gedächtnismaschine zu bauen, die er sich einst gewünscht hatte, um sich an die wunderbaren Erfindungen der Zigeuner erinnern zu können. Die Zaubermaschine fußte auf der Möglichkeit, jeden Morgen die Gesamtheit der im Leben erworbenen Kenntnisse von Anfang bis zu Ende an sich vorbeiziehen zu lassen. Er sah den Apparat als ein drehbares Wörterbuch, das von der Achse aus mit einem Hebel zu bedienen war, so daß ein Mensch die lebensnotwendigsten Kenntnisse in wenigen Stunden Revue passieren lassen konnte. Er hatte etwa vierzehntausend Karten ausgefüllt, als auf dem Moorweg ein wunderlicher Greis mit dem trostlosen Glöckchen der Schläfer erschien, der einen strickverschnürten bauchigen Handkoffer schleppte und ein mit schwarzen Stoffetzen beladenes Kärrchen zog. Dieser begab sich unmittelbar zu José Arcadio Buendías Haus.
    Visitación kannte ihn beim Öffnen der Tür nicht und dachte, er wolle etwas verkaufen und wisse nur nicht, daß in einem Dorf, das unrettbar im Zitterboden des Vergessens versank, nichts zu verkaufen sei. Der Mann war hinfällig. Wenn auch seine Stimme vor Unsicherheit zu splittern und seine Hände am Dasein der Dinge zu zweifeln schienen, kam er offensichtlich aus jener Welt, in der die Menschen noch schlafen und sich erinnern konnten. José Arcadio Buendía fand ihn im Wohnzimmer sitzend, wo er sich mit seinem geflickten schwarzen Strohhut fächelte, während er die an den Wänden hängenden Schilder mit mitleidiger Aufmerksamkeit las. Er begrüßte ihn mit übertriebener Herzlichkeit, aus Furcht, ihn womöglich früher gekannt zu haben, sich jetzt aber nicht mehr auf ihn zu besinnen. Doch der Besucher merkte seine Heuchelei. Er fühlte sich vergessen, doch nicht mit dem wiedergutzumachenden Vergessen des Herzens, sondern mit einem anderen, grausameren, unwiderruflichen Vergessen, das er sehr gut kannte, weil es das Vergessen des Todes war. Nun begriff er. Er öffnete den mit unentzifferbaren Gegenständen vollgestopften Handkoffer und förderte dazwischen eine mit Fläschchen angefüllte Handtasche zutage. Er gab José Arcadio Buendía eine Substanz von einnehmender

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