Hundert Jahre Einsamkeit
Dritte, damit Gott die Mißachtung, der sein Mittler sich ausgesetzt sah, nicht als persönliche Beleidigung auffasse. So fand sich denn gegen acht Uhr morgens das halbe Dorf auf dem Platz ein, wo Pater Nicanor mit seiner vom vielen Betteln zerstörten Stimme die Evangelien sang. Endlich, als die Anwesenden sich zu zerstreuen begannen, hob er Aufmerksamkeit heischend die Arme.
»Einen Augenblick«, rief er. »Jetzt wollen wir einem unwiderleglichen Beweis von Gottes unendlicher Macht beiwohnen.«
Der Junge, der bei der Messe geholfen hatte, reichte ihm eine Tasse mit dicker, dampfender Schokolade, die er, ohne Luft zu holen, austrank. Dann wischte er sich mit einem Taschentuch, das er aus einem Ärmel zog, die Lippen ab, breitete die Arme aus und schloß die Augen. Nun hob Pater Nicanor sich zwölf Zentimeter über den Erdboden. Das war ein überzeugendes Mittel. Mehrere Tage lang ging er in die Häuser, wiederholte mit dem Reizmittel der Schokolade den Beweis der Levitation, während sein Chorknabe so viel Geld in einem Sack einsammelte, daß er in weniger als einem Monat mit dem Bau der Kirche beginnen konnte. Niemand bezweifelte den göttlichen Ursprung des Beweises, ausgenommen José Arcadio Buendía, der unbeirrt die Menschenmenge beobachtete, die sich eines Morgens um den Kastanienbaum scharte, um wieder einmal der Offenbarung beizuwohnen. Er streckte sich lediglich auf dem Bänkchen und zog die Schultern ein, als Pater Nicanor sich mitsamt dem Stuhl, auf dem er saß, vom Boden zu erheben begann.
»Hoc est simplicissimum«, sagte José Arcadio Buendía, »homo iste statum quartum materiae invenit.«
Pater Nicanor hob die Hand, und schon landeten die vier Stuhlbeine auf der Erde.
»Nego«, sagte er. »Factum hoc existentiam Dei probat sine dubio.«
So erfuhr man, daß José Arcadio Buendías verteufeltes Kauderwelsch Lateinisch war. Pater Nicanor nutzte als einziger, der mit ihm sprechen konnte, die Gelegenheit, seinem verstörten Gehirn Glauben einzuflößen. Jeden Nachmittag setzte er sich vor die Kastanie und predigte José Arcadio Buendía auf lateinisch, doch dieser wehrte sich hartnäckig gegen rhetorische Umwege und Umsetzung von Schokolade und forderte als einzigen Beweis den Daguerreotyp Gottes. Nun brachte Pater Nicanor ihm Medaillen und Heiligenbildchen, ja sogar eine Reproduktion des Schweißtuchs der Veronika mit, doch José Arcadio Buendía lehnte sie als kunsthandwerkliche Gegenstände ohne wissenschaftliche Grundlage ab. Dabei zeigte er sich so halsstarrig, daß Pater Nicanor auf seine Absichten der Evangelisation verzichtete und ihn nur noch aus Gründen der Menschlichkeit besuchte. Doch jetzt drehte José Arcadio Buendía den Spieß um und versuchte den Glauben des Priesters mit verstandesmäßigen Listen zu brechen. Einmal, als Pater Nicanor ein Tablett und ein Kästchen Spielmarken zum Kastanienbaum brachte, um ihn zu einem Spielchen >Dame< aufzufordern, lehnte José Arcadio Buendía dankend ab, weil er, wie er sagte, nie den Sinn eines Kampfes zwischen Gegnern hatte begreifen können, die grundsätzlich übereinstimmten. Pater Nicanor, der das >Dame<-Spiel nie unter diesem Gesichtspunkt betrachtet hatte, konnte nie wieder spielen. Zunehmend von José Arcadio Buendías Hellsicht verblüfft, fragte er ihn, wie es käme, daß man ihn an einen Baum gebunden habe.
»Hoc est simplicissimum«, erwiderte er. »Ich bin verrückt.«
Fortan besuchte der um seinen eigenen Glauben besorgte Priester ihn nie wieder und widmete sich ausschließlich dem Bau der Kirche. Rebeca fühlte ihre Hoffnung von neuem wachsen. Ihre Zukunft hing von der Beendigung des Baus ab, seit Pater Nicanor eines Sonntags im Hause zu Mittag gespeist und die ganze bei Tisch sitzende Familie von der Feierlichkeit und dem Glanz gesprochen hatte, welche die Andachten nach Beendigung des Kirchenbaus umstrahlen würden. »Die Glücklichste wird Rebeca sein«, sagte Amaranta. Und da Rebeca nicht verstand, was sie meinte, erklärte sie ihr mit unschuldigem Lächeln:
»Dir wird die Aufgabe zufallen, die Kirche mit deiner Hochzeit einzuweihen.«
Rebeca suchte allen Bemerkungen zuvorzukommen. Bei der augenblicklichen Bauweise würde die Kirche nicht vor Ablauf von zehn Jahren fertiggestellt sein. Pater Nicanor war anderer Meinung: die wachsende Freigebigkeit der Gläubigen ließ optimistischere Berechnungen zu. Angesichts der dumpfen Empörung Rebecas, die das Mittagsmahl nicht zu Ende essen konnte, pries Ursula Amarantas Idee und
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