Hundert Jahre Einsamkeit
beschloß, das Flußbett für einen Schiffahrtsdienst freizulegen. Es war ein taumelerregender Traum, nur vergleichbar mit den Träumen seines Urgroßvaters, weil das steinige Bett und die zahlreichen Stromschnellen seine Schiffbarkeit von Macondo bis zum Meer beeinträchtigten. Doch José Arcadio Segundo klammerte sich in einem unerwarteten Anfall von Verwegenheit an den Plan. Bis dahin hatte er keine Probe von Einbildungskraft abgelegt. Abgesehen von seinem Abenteuer mit Petra Cotes hatte er keine Frau kennengelernt. Ursula hielt ihn für das farbloseste Exemplar, das die Familie in ihrer ganzen Geschichte hervorgebracht hatte, für einen Menschen, der sich nicht einmal als Hahnenkampfzüchter hervortun konnte — als Oberst Aureliano Buendía ihm die Geschichte von der zwölf Kilometer vom Meer landeinwärts gestrandeten spanischen Galeone erzählte, deren verkohlten Rumpf er selber im Kriege gesehen hatte. Der Bericht, den viele Leute lange Zeit für reine Phantasie gehalten hatten, war für José Arcadio Segundo eine Offenbarung. So verkaufte er seine Hähne meistbietend, trommelte Männer zusammen, kaufte Werkzeuge und stürzte sich in das außergewöhnliche Unternehmen, Felsen zu zertrümmern, Kanäle auszuschachten, Klippen wegzuräumen und sogar Wasserfälle auszugleichen. »Auch das kenne ich auswendig«, schrie Ursula. »Es ist, als mache die Zeit kehrt, als seien wir zum Anfang zurückgekehrt.« Als José Arcadio Segundo ausgerechnet hatte, daß der Fluß schiffbar sei, setzte er seine Pläne dem Bruder eingehend auseinander, und dieser stellte ihm die zur Ausführung seines Projekts notwendigen Geldmittel zur Verfügung. Er verschwand für lange Zeit. Es hieß, sein Plan, ein Schiff zu kaufen, sei nur ein Kniff, um sich mit dem Vermögen des Bruders aus dem Staub zu machen, als die Nachricht eintraf, ein sonderbares Wasserfahrzeug nähere sich dem Dorf. Macondos Einwohner, die sich kaum mehr an José Arcadio Buendías gewaltige Unternehmungen erinnerten, stürzten ans Ufer und erlebten mit ungläubig aufgerissenen Augen die Ankunft der ersten und letzten Barke, die jemals im Dorf landen sollte. Es war jedoch nicht mehr als ein von zwanzig Männern am Ufer getreideltes Balkenfloß. Am Bug leitete José Arcadio Segundo mit vor Zufriedenheit strahlender Miene das umständliche Manöver. Mit ihr kam eine Gruppe prachtvoller Matronen angereist, die sich gegen die mörderische Sonne mit zierlichen Sonnenschirmen schützten, die kostbare Seidenschals über den Schultern trugen, deren Gesichter mit farbigen Salben bemalt waren, die natürliche Blumen im Haar trugen, goldene Schlangen um die Arme und Diamanten an den Zähnen. Die Floßfähre war das einzige Fahrzeug, das José Arcadio Buendía bis nach Macondo heraufbrachte und auch nur dieses einzige Mal; doch nie gab er den Fehlschlag seines Unternehmens zu und posaunte vielmehr seine Leistung als Sieg der Willenskraft aus. Mit seinem Bruder rechnete er gewissenhaft ab und kehrte alsbald zu seiner Alltagsbeschäftigung, der Hahnenzucht, zurück. Das einzige, was von seinem glücklosen Abenteuer übrigblieb, war ein Hauch der Erneuerung, den Frankreichs Matronen mitbrachten, deren großartige Künste die überlieferten Methoden der Liebe veränderten, deren Sinn für sozialen Wohlstand mit Catarinos Butike aufräumte und die Straße in einen Bazar mit japanischen Laternen und schmachtenden Drehorgeln verwandelte. Sie waren die Urheberinnen des blutrünstigen Karnevals, der drei Tage lang Macondo auf den Kopf stellte und als dessen einzige dauerhafte Folge Aureliano Segundo Fernanda del Carpio kennenlernte.
Remedios die Schöne wurde zur Königin ausgerufen. Ursula, die sich wegen der betörenden Schönheit ihrer Urenkelin Sorgen machte, konnte die Wahl nicht verhindern. Bisher hatten sie sie nicht ausgehen lassen, es sei denn in Amarantas Begleitung zur Messe, wobei sie das Gesicht mit einer schwarzen Mantille bedecken mußte. Die weniger frommen Männer, die sich als Priester verkleideten, um in Catarinos Butike schwarze Messen abhalten zu können, gingen nur in die Kirche, um womöglich einen Blick auf Remedios zu werfen, deren legendäre Schönheit das ganze Moorgebiet mit Inbrunst pries. Viel Zeit verging indes, bevor sie ihrer ansichtig wurden, und es wäre besser gewesen, die Gelegenheit hätte sich ihnen nie geboten, weil die meisten von ihnen nie wieder ruhig und ungestört schlafen konnten. Der Mann, dem es gelang, ein Fremder, büßte für immer seine
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