Hundert Jahre Einsamkeit
an sich. Er verbrachte den größten Teil des Tages in der Klausur seines Arbeitszimmers und kehrte von seinen seltenen Ausgängen vor sechs Uhr zurück, um mit ihr den Rosenkranz zu beten. Fernanda schloß mit niemandem innige Freundschaft. Nie drang zu ihr ein Laut von den Kriegen, die das Land ausbluteten. Nie versäumte sie, um drei Uhr nachmittags die Fingerübungen von nebenan zu hören. Sie begann sogar bereits, an ihre Zukunft als Königin zu glauben, als eines Tages zwei laute Schläge des Türklopfers erschallten und sie einem schmucken Militär mit zeremoniellem Gehabe öffnete, der eine Narbe auf der Wange und eine Goldmedaille auf der Brust trug. Dieser schloß sich mit ihrem Vater im Arbeitszimmer ein. Zwei Stunden später holte ihr Vater sie aus dem Nähzimmer. »Pack deine Sachen«, sagte er. »Du mußt eine lange Reise antreten.« So kam es, daß sie nach Macondo geführt wurde. Von einem Tag zum anderen lud das Leben ihr mit einem grausamen Schlag die ganze Last einer Wirklichkeit auf, die ihre Eltern ihr jahrelang verheimlicht hatten. Wieder zu Hause, schloß sie sich weinend in ihr Zimmer ein, gleichgültig gegen Don Fernandos Bitten und Erklärungen, der damit die Brandwunde des unerhörten Possenspiels zu lindern suchte. Sie hatte sich geschworen, ihr Schlafzimmer bis zu ihrem Tode nicht mehr zu verlassen, als Aureliano Segundo kam, um sie zu holen. Das war ein unbegreiflicher Glücksfall, da sie in der Verwirrung ihrer Empörung, im Zorn ihrer Beschämung ihn angelogen hatte, damit er nie ihren wahren Namen erfahre. Die einzige wirkliche Spur, über die Aureliano Segundo verfügte, als er auf die Suche nach ihr ging, waren ihre unverkennbare Hochlandaussprache und ihr Beruf als Flechterin von Trauerkränzen. Er suchte sie erbarmungslos. Mit der wilden Tollkühnheit, mit der José Arcadio Buendía die Sierra überquert hatte, um Macondo zu gründen, mit dem blinden Stolz, dank dem Oberst Aureliano Buendía nutzlose Kriege entfesselt hatte, mit der unsinnigen Hartnäckigkeit, durch die Ursula das Überleben ihrer Sippe sicherstellte, genauso, ohne einen Augenblick der Mutlosigkeit, suchte Aureliano Segundo Fernanda. Als er fragte, wo man Trauerkränze kaufen könne, wurde er von Haus zu Haus geführt, damit er sich die besten aussuchen könne. Als er fragte, wo die schönste Frau wohne, die es auf der Erde gäbe, führten alle Mütter ihn zu ihren Töchtern. Er verirrte sich in Nebelschneisen, in vergessenheitsgeschlagenen Zeiträumen, in Labyrinthen der Enttäuschung. Er durchquerte eine gelbe Hochfläche, wo das Echo die Gedanken wiedergab und wo die Angst ahnungsvolle Spiegelungen hervorrief. Nach fruchtlosen Wochen gelangte er in eine unbekannte Stadt, wo alle Glocken die Totenstunde einläuteten. Obwohl er sie nie gesehen und niemand sie ihm beschrieben hatte, erkannte er sofort die vom Knochensalz zerfressenen Mauern, die baufälligen pilzigen Holzbalkone und das ans Portal geheftete, vom Regen fast verwischte traurigste Kärtchen von der Welt mit der Aufschrift Trauerkränze zu verkaufen . Von da an bis zu dem eisigen Morgen, an dem Fernanda das Haus der Fürsorge ihrer Oberin überließ, blieb den Nonnen kaum Zeit, um die Aussteuer zu nähen und die Kandelaber und das silberne Besteck und die goldene Nachtschüssel in sechs Truhen zu verpacken, abgesehen von dem unübersehbaren, unbrauchbaren Strandgut eines Familienschiffbruchs, der erst nach zwei Jahrhunderten eingetreten war. Don Fernando lehnte die Einladung mitzureisen ab. Doch versprach er nachzukommen, sobald er seinen Verpflichtungen genügt hätte, und sobald er seine Tochter gesegnet hatte, schloß er sich wieder in sein Arbeitszimmer ein und schrieb ihr jene mit Trauervignetten und dem Familienwappen verzierten Briefbilletts, welche die erste menschliche Berührung waren, die sich zwischen Fernanda und ihrem Vater zeitlebens herstellen sollte. Für sie war dies ihr wirklicher Geburtstag. Für Aureliano Segundo war es fast zugleich der Anfang und das Ende des Glücks.
Fernanda brachte einen kostbaren Kalender mit vergoldeten Schlüsseln mit, in dem ihr Seelenhirte mit maulbeerfarbener Tinte die Tage geschlechtlicher Enthaltsamkeit eingetragen hatte. Abzüglich der Karwoche, der Sonntage, der gebotenen Feiertage, der ersten Freitage des Monats, der Bettage, Opfertage und periodischen Behinderungen war der werktätige Teil ihres Jahrbuchs auf zweiundvierzig in einem Gestrüpp maulbeerfarbener Kreuze verstreute Tage beschränkt.
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