Hundert Namen: Roman (German Edition)
blieb stehen, schaute sich um und stellte fest, dass der Junge keine Verstärkung in der Nähe hatte. Die Kids, die hier gestanden hatten, waren entweder zu einem anderen Treffpunkt abgewandert, nach Hause gegangen oder trieben sich irgendwo im Schatten herum.
»Hey«, sagte sie.
»Hey«, hörte sie vier Stockwerke weiter oben eine Stimme, die sie imitierte.
Auch der Junge auf dem Fahrrad blickte zu der Stimme hinauf, dann sah er wieder Kitty an.
»Das ist mein Fahrrad«, sagte Kitty mit fester Stimme.
Der Junge radelte die Bordsteinkante hinauf und umkreiste Kitty auf dem Gehweg. Er konnte nicht älter sein als dreizehn, aber er schüchterte sie trotzdem ein.
»Wenn das Rad dir gehört, wieso habe ich es dann?«
»Weil du es geklaut hast.«
»Ich hab aber nichts geklaut«, erwiderte er und fuhr weiter um sie herum.
»Ich hab es am Samstag hier ans Geländer angeschlossen. Jemand hat es mitgenommen.« Sobald die Worte aus ihrem Mund kamen, wurden sie natürlich sofort von dem Jungen auf dem Basketball wiederholt, so dass er einen Teil des Satzes gleichzeitig mit ihr sprach und sie sich kaum auf das konzentrieren konnte, was sie sagen wollte.
»Muss ein beschissen schlechtes Schloss gewesen sein.«
»Stimmt.«
»Stimmt.«
Der Junge fuhr den Bordstein wieder hinunter und auf die Straße, richtete sich in den Pedalen auf und bremste dann so scharf, dass das Hinterrad vom Boden abhob. Dann drehte er noch ein paar Kurven.
»Möchtest du es zurückhaben?«
»Natürlich, klar.«
»Natürlich, klar«, hörte sie ihr persönliches Echo.
Der Junge blieb abrupt stehen, sprang vom Fahrrad, stellte sich ein paar Meter vor sie und streckte ihr das Rad am Lenker hin. »Musstest mich nur fragen.«
Kitty sah sich wieder um, weil sie dachte, dass die Sache bestimmt einen Haken hatte und sich wahrscheinlich gleich eine ganze Bande aus dem Hinterhalt auf sie stürzen würde.
Langsam ging sie im orangefarbenen Licht der Straßenlaterne auf den Jungen zu, Burger und Pommes in der Hand. Sie erreichte das Fahrrad. Nichts passierte. Sie ergriff den Lenker, der Junge ließ los und ging davon.
»Danke«, sagte sie und hörte selbst die Überraschung in ihrer Stimme.
»Danke«, hörte sie das Echo von oben.
Sie hatte nur fragen müssen.
Gerade als sie aufsteigen wollte, hatte sie plötzlich eine Idee. »Hey!«, rief sie.
»Hey«, hörte sie die Stimme.
»Du da oben auf dem Basketball«, sagte sie, und diesmal gab es kein Echo, sondern ein kleiner Kopf erschien über der Mauer. »Wollen wir spielen?«, fragte sie.
Er wiederholte die Frage nicht, stattdessen verschwand der Kopf, und sie hörte den Jungen die Treppe heruntersausen. Auf dem Basketballfeld neben dem Wohnblock lieferten der Junge und Kitty sich im Dunkeln einen Wettkampf, ohne dass einer von ihnen ein Wort sprach, und Kitty kam sich vor, als wäre sie in ihre Jugend zurückversetzt worden.
Als sie nach Hause kam, schleppte sie als Erstes ihr wiedergefundenes Fahrrad nach oben und war so darauf konzentriert, dass sie fast zu Tode erschrak, als auf einmal eine Gestalt in ihr Blickfeld trat.
»Herrgott nochmal.« Sie ließ das Fahrrad sinken und dachte schon, es wären Colin Murphys Leute, die sich auf sie stürzen würden. Womöglich wäre ihr das sogar lieber gewesen, denn ihr gegenüber stand Richie, der Schmierenjournalist aus der Hölle. Sie hätte ihm sofort eine Ohrfeige versetzt, wenn sein Auge nicht ausgesehen hätte wie eine faulige Pflaume, halb zugeschwollen und lila-violett, die Lippe dick und aufgeplatzt. Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Sämtliche sorgfältig vorbereiteten Gemeinheiten waren wie weggeblasen.
»Was ist denn mit dir passiert?«
»Tu nicht so unschuldig«, erwiderte er bitter. »Gib mir meine Jacke, dann verschwinde ich wieder.«
Das Blut pochte in ihren Ohren. »Wie bitte?«
»Meine Jacke. Ich wollte sie abholen, und der Kerl unten hat gesagt, er hat sie dir gegeben.«
»Deine Jacke«, wiederholte sie. »Und wie wäre es mit einer Entschuldigung? Hallo, Kitty, es tut mir leid? Es tut mir leid, dass ich eine dreckige, verlogene scheißmiese Ratte bin?« Sie gab sich keine Mühe, ihre Wut zu beherrschen, sondern ließ ihr freien Lauf.
»Ach, komm mir doch nicht so!« Er hielt die Hände in die Höhe. »Du kennst das Spiel, du weißt, wie der Hase läuft. Ich bin losgeschickt worden, um die Geschichte aus dir rauszukriegen, und ich hab einfach meinen Job gemacht.«
»Du hast deinen Job gemacht? Hat
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