Hundert Namen: Roman (German Edition)
Hüsteln oder Schnaufen war zu hören, was sich allerdings jedes Mal wie eine Flutwelle unter den Versammelten zu verbreiten schien und dann wieder verebbte. Archie schloss die Augen und neigte den Kopf zur Seite. Sein Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck angenommen. Dann öffnete er die Augen wieder und sah sich um. Sein Blick wanderte zu der verhuschten Frau, die gerade eine Kerze angezündet hatte, zu einer Bank ging und sich hinkniete. Langsam schritt Archie den linken Seitengang hinunter und schob sich unsicher in eine Reihe, so dass er hinter der Frau zu sitzen kam. Kitty blieb ganz hinten im Kirchenschiff stehen – aus mehreren Gründen. Zum einen wollte sie Archie Raum geben, zum anderen fühlte sie sich in Kirchen nie wirklich wohl, aber vor allem wollte sie verhindern, dass Archie, falls er wirklich Gebete hören konnte, ihres zu Ohren bekam. Kitty hatte nicht gelogen, als sie ihm gesagt hatte, dass sie nicht an Gott glaubte. Zwar war sie katholisch getauft, aber wie die meisten Katholiken, die sie kannte, praktizierte sie ihre Religion nicht. Gottesdienste waren für sie auf Hochzeiten und Beerdigungen beschränkt. Sie betete auch eigentlich nicht, zumindest nicht in dem Sinn, dass sie sich jeden Abend neben ihr Bett kniete. Aber gelegentlich, wenn sie sich verloren fühlte, dann betete sie, dass die Krise, in der sie gerade steckte, schnell vorbeiging, allerdings ohne sich den geringsten Gedanken darüber zu machen, an wen sich dieser Wunsch richtete. Sie zweifelte nicht daran, dass Archie glaubte, dass er die Gebete anderer Menschen hören konnte. Irgendwie leuchtete es ihr ein, dass er, nachdem er so lange gedacht hatte, niemand würde seine Gebete hören, auf die Idee gekommen war, irgendwo könnte irgendjemand – wenn auch vielleicht kein Gott – ihn doch gehört haben, und nun war er selbst dieser Jemand geworden. Vielleicht half ihm das zu glauben, dass die Gebete für seine Tochter nicht umsonst gewesen waren, aber dass derjenige, der sie gehört hatte, einfach nicht die Macht besaß, einzugreifen – genau wie er selbst. Vielleicht war er aber auch schlicht verrückt. Während Kitty so dastand, versuchte sie, an etwas anderes zu denken als an ihre Gebete, aber das war schwierig. Sie hatte einfach zu viel im Kopf, zu viel, worüber sie sich Sorgen machte. Und hier war es so still, so friedlich, und diese Stille war wie eine Welle am Strand, die sie immer wieder in ihre Gedanken zurücksog.
Sie machte sich Sorgen wegen Pete, wegen Richie, sie machte sich Sorgen, weil Steve sie weggedrückt hatte – anstatt daran zu denken, dass er ihre Ehre verteidigt hatte und was für ein Gefühl das in ihr hervorrief –, sie machte sich Sorgen, weil sie am Freitag vor versammelter Mannschaft ihren Artikel vorstellen musste, und auch darüber, wie sie es schaffen sollte, den ganzen Artikel an einem einzigen Wochenende zu schreiben – vorausgesetzt natürlich, er wurde akzeptiert. Sie machte sich Sorgen, weil sie sich innerhalb der nächsten zwei Wochen eine neue Bleibe suchen musste, weil sie ein Vorstellungsgespräch am College hatte und weil sie womöglich in Sachen Altenheimbus Komplizin eines Autodiebstahls wurde. Aber was ihre Gedanken am meisten beschäftigte, war die Frage, wie sie jemals eine Möglichkeit finden würde, sich bei Colin Murphy zu entschuldigen. Nur über eines war sie sich sicher. Sie wusste jetzt, wie sie Constances Geschichte schreiben musste, und sie würde sie schreiben, ganz gleich, ob Pete ihr seine Erlaubnis dazu gab oder nicht.
Nach fünfzehn Minuten stand die verhuschte Frau auf und verließ die Kirche, ohne Kitty anzuschauen. Offensichtlich hatte sie keine Ahnung, dass sie an drei Morgen im gleichen Café gewesen waren. Archie stand ebenfalls auf, ging an Kitty vorbei, verließ die Kirche und trat ins helle Licht hinaus. Kitty folgte ihm, und sie blinzelten beide in die Sonne.
»Wohin geht sie jetzt?«, fragte Kitty.
»Keine Ahnung, ich hab noch nie so lange durchgehalten.« Archie seufzte. Er machte einen erschöpften Eindruck.
»Wie war es für Sie da drin?«, fragte Kitty leise.
»Es ist jedenfalls anders als in einer Menschenmenge oder im Bus. Da hört man nur gelegentlich jemanden beten: Einer will vielleicht nicht zu spät kommen, ein anderer braucht gute Noten in der Schule oder auf dem College, einer wünscht sich, dass bei der Arbeit etwas Bestimmtes passiert oder dass eine Hypothek oder ein Kredit bewilligt wird. Aber da drin …« Er blies die
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