Hundert Namen: Roman (German Edition)
Umarmung. Sie brauchte Steves Zuneigung so sehr. Bestürzt von ihren eigenen Gefühlen drehte sie sich um und ging befangen davon.
»Aber Eugene, ich verstehe nicht, warum du ihr das erzählt hast«, rief Ambrose ihrem Freund und Kollegen zu.
Eugenes Wangen röteten sich. Ambroses Temperament war mindestens so feurig wie ihre Haarfarbe. Er hatte ihren Zorn schon des Öfteren über sich ergehen lassen müssen und konnte nicht sonderlich gut damit umgehen, denn er verwandelte sich jedes Mal in ein stotterndes Nervenbündel.
Seine Sanftheit verlieh ihr Selbstbewusstsein und machte es ihr leicht, auf ihn loszugehen. »Wieso ist das einfach im Gespräch aufgetaucht, wie kann das sein? Es hat nichts mit unserer Arbeit zu tun. Oh, ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie dich interviewt«, schimpfte sie und marschierte wütend in ihrer Küche auf und ab. Dabei wussten sie beide, dass ihr letzter Satz ausgemachter Blödsinn war, denn wenn Eugene nicht mit Reportern sprach, wurden keine Artikel veröffentlicht, und dann gab es auch keine Publicity für das Museum, die sie dringend brauchten. Außerdem waren solche Interviews einfach die beste Möglichkeit, ihre Ansichten und vor allem ihre Sorge über das Aussterben so vieler Schmetterlingsarten an die Öffentlichkeit zu bringen. Eugene konnte mit Menschen umgehen, das wusste jeder, während Ambroses soziale Kompetenz praktisch gleich null war. Sie schämte sich wegen ihres Äußeren und war so zwanghaft damit beschäftigt, was andere Menschen von ihr dachten, dass sie keinen vernünftigen Satz formulieren und schon gar nicht über geschäftliche Dinge reden oder gar Werbung für das Museum machen konnte. Am Telefon kam sie relativ gut zurecht, aber sie wusste, dass jeder in der Gegend sie für ein großes Mysterium hielt, und deshalb zog sie es vor, nichts mit anderen Menschen zu tun zu haben. Dann gab sie den geflüsterten Gerüchten und Legenden – die meistens mit »damals, als ich Ambrose Nolan begegnet bin« begannen – wenigstens nicht noch zusätzlich Nahrung. Aber die Wahrheit war leider, dass sie sich immer mehr isolierte. Kleidung und Lebensmittel kaufte sie online, Geschäftspost ging direkt ans Museum und wurde dort von Eugene oder Sara erledigt. Aber nun hatte Eugene sich ausgerechnet das, was niemand wusste, von der Reporterin aus der Nase ziehen lassen. Genaugenommen gab es zwei Dinge, die Ambrose unbedingt geheim halten wollte. Wäre das erste herausgekommen, hätte sie nur mäßig verärgert reagiert, aber als sie gehört hatte, dass Eugene das zweite Geheimnis preisgegeben hatte, war sie explodiert, denn das war für sie unverzeihlich. Ihm war das schon in dem Moment klar gewesen, als er es der Journalistin erzählte, aber er hatte nicht anders gekonnt, es war einfach aus ihm herausgesprudelt. Die Reporterin war wirklich gut, sie hatte eine Art, einen zum Reden zu bringen, die Eugene beinahe Sorgen machte. Er hatte Dinge gesagt, bei denen ihm erst als sie über seine Lippen kamen, richtig bewusst geworden war, dass sie stimmten.
»Ich entschuldige mich dafür, dass ich ihr von der Operation erzählt habe«, stammelte er. »Ich hätte das nicht tun sollen, und ich weiß auch wirklich nicht, warum es mir rausgerutscht ist. Ich werde die Frau bitten, es auf keinen Fall in ihrem Artikel zu verwenden.« Worauf sich der ganze Streit bezog, war die Tatsache, dass Ambrose schon lange Zeit auf eine Laserbehandlung sparte, mit der sie sich das Muttermal auf ihrem Gesicht entfernen lassen wollte. Sie war deswegen schon bei mehreren Ärzten gewesen, und alle hatten ihr übereinstimmend versichert, dass es vielleicht ein wenig Geduld erfordern würde, aber durchaus machbar war. Aber Ambrose wollte nicht, dass jemand anderes davon wusste. Die Vorstellung, dass Eugene sich mit der Journalistin über ihr Gesicht unterhalten hatte, demütigte sie zutiefst.
»Aber dass niemand etwas über dein Referat erfahren sollte, wusste ich ehrlich nicht«, fügte Eugene mit etwas mehr Nachdruck hinzu, seine Stimme klang selbstbewusst, und Ambrose glaubte ihm.
»Wem hast du es denn sonst noch erzählt?«
»Niemandem.«
»Siehst du, du hast es also gewusst, sonst hättest du auch anderen Leuten davon erzählt.«
»Hör zu, Ambrose, jetzt beruhige dich erst mal. Deine Arbeit ist großartig, du solltest stolz darauf sein. Ich habe den Entwurf für deinen Bericht schon mehrmals gelesen, und es ist das Wunderbarste, was mir je unter die Augen gekommen ist. Ich bin
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