Hundert Namen: Roman (German Edition)
alles, was ich mir vorgestellt hatte. Es konnte noch viel mehr. Sie hat ein Fotoalbum für meinen Vater gemacht. Dafür hat sie Fotos von seinem Großvater und seinem Vater bei der Arbeit auf der Farm gesucht, Fotos von ihm selbst und seinem Vater, und dann Fotos von ihm und mir, von meiner Geburt bis zu dem Tag, als ich das Haus verlassen habe. Fotos von uns zusammen auf der Farm, von ihm, wie er mich auf der Reifenschaukel anschubst, die er für mich gebaut hatte, Fotos, die ich selbst noch nie gesehen hatte. Dad hatte in diesem Jahr eine der Eichen auf seinem Land fällen müssen, was ihm sehr viel ausgemacht hatte, weil wir als Kinder auf diesem Baum gespielt hatten, und nicht nur wir, sondern auch er und sein Vater. An ihm hing auch die Reifenschaukel. Aber der viele Schnee hatte seine Wurzeln erstickt, und das hat er nicht überlebt. Nun kam Eva auf die Idee, das Cover des Fotoalbums aus dem Holz dieses Baums machen zu lassen. Vorne ließ sie Dads Namen und meine Geburtstagsbotschaft an ihn einschnitzen. Für die Schreinerarbeit habe ich fünfundsechzig Euro bezahlt und vierzig für das Ausdrucken der Fotos und das Papier. Das waren die Kosten des Geschenks.«
»Hat es denn funktioniert?«
»Meine Mutter hat erzählt, dass sie ihn hat weinen hören, als er es angeschaut hat. Sie selbst war schon im Bett. Wochenlang hat er nichts zu mir gesagt, aber dann hat er mich eines Tages angerufen, aus heiterem Himmel.«
»Was hat er gesagt?«
Nigel lachte. »Er hat angefangen, mir von irgendeinem Problem auf der Farm zu erzählen. Irgendetwas wegen der brünstigen Kühe. Ich war so überrascht, seine Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören, dass ich kaum kapierte, was er sagte. Er hat die fünf Jahre, in denen wir nicht gesprochen haben, mit keinem Wort erwähnt, es war, als hätte er den Faden einfach dort wiederaufgenommen, wo er ihn abgeschnitten hat.«
»Dann ist Eva also unglaublich einfühlsam.«
»Sie ist noch viel mehr als das. Sie hat genau verstanden, wie mein Vater tickt, was genau ihn so aufgeregt oder enttäuscht hat, was ihn berührt, was seine vorgefasste Meinung ins Wanken bringen könnte. Sie hat mit uns gelebt und uns Fragen gestellt und sich unsere Geschichten angehört, und sie hat eine Lösung gefunden. Mein Vater ist ein sensibler Mann, aber er ist auch sehr verschlossen, er würde niemals Gefühle zeigen oder über Gefühle sprechen, aber sie hat ein Geschenk gefunden, das sein Herz berührt hat.«
Kitty dachte nach. »Okay.«
»Haben Sie es jetzt verstanden?«
»Ja, ich hab es verstanden.«
»Gut. Und ab jetzt stören Sie mich bitte nicht mehr bei der Arbeit«, sagte er frech und ließ sie auf dem Custom House Quay stehen.
Kapitel 24
Am Gartencenter von Kinsealy, einem Vorort im Norden Dublins, stieg Kitty aus dem Bus. Auf den Feldern wurden Erdbeeren gepflückt, auf dem dahinterliegenden Schrebergartengelände herrschte jede Menge Betrieb, denn das Sommerwetter lockte die Gartenliebhaber in ihre Gärten. Das ganze Land gehörte Steves Vater – das Gartencenter, die Erdbeerfelder, die Schrebergärten –, und zur Überraschung und Enttäuschung vieler Menschen schaffte er es nun schon seit über einem Jahrzehnt, sich gegen die Planer zu wehren, die das Land kaufen und hier Häuser bauen wollten. In den letzten Jahren waren die Angebote zwar von selbst weniger geworden, aber davor hatte er Millionenbeträge abgelehnt, froh, sein eigenes Geschäft führen zu können. Im Herzen war er Bauer, zäh, stur und unbeugsam, und er hätte gar nicht gewusst, was er mit zwanzig Millionen auf dem Konto anfangen sollte. Am liebsten verbrachte er seine Tage auf dem Feld und entdeckte neue Geräte für die Gartenarbeit. Zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte es allerdings auch, Leute anzublaffen.
»Ich dachte, du versteckst dich unter einem großen Stein«, sagte er zu Kitty, als sie ins Clubhaus trat.
»Ich dachte, Sie als Fachmann können mir bestimmt sagen, welcher da der richtige ist.«
»Der größte, der sich finden lässt, schlage ich vor.« Er beäugte sie argwöhnisch.
»Ich bin für alles offen«, grinste sie, was ihn noch mehr auf die Palme brachte. »Wie geht es denn so? Läuft das Geschäft?«
Er schaute sie an und dann wieder zu dem Papierkram auf seinem Schreibtisch. »Falls du zu Steve willst, der bearbeitet in Kleingarten Nummer fünfzig den Boden mit der Motorhacke.«
»Steve arbeitet mit der Motorhacke?« Kitty lachte. »Seit wann versteht er denn was von
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