Hundert Namen: Roman (German Edition)
war Sam aufgestanden und klopfte an sein Glas.
»O nein, Sam«, stöhnte Mary-Rose. Ihr Gesicht war entschlossen und zeigte nicht die Spur eines Lächelns.
»Esmeralda«, sagte Sam in strengem Ton.
»Esmeralda?«, wiederholte Jedrek verwirrt. »Ich hab immer Mary-Rose zu ihr gesagt!«, rief er.
»Ignorieren Sie ihn einfach«, erwiderte Mary-Rose und schlug die Hände vors Gesicht. »Sam, es ist mein Ernst, hör auf damit.«
Aber Sam bemerkte wohl nicht, dass sie in einer ganz anderen Stimmung war als sonst, oder er merkte es schon, verstand es aber irrtümlicherweise als etwas, was er mit seinem Antragsspielchen beheben konnte. Kitty dagegen war fest überzeugt, dass das diesmal nicht klappen würde. Sie hatte bereits zwei Anträge miterlebt und hielt sich inzwischen für eine Expertin.
»Okay, gut«, beschwichtigte Sam die verwirrten Umsitzenden. »Esmeralda ist ein Kosename«, erklärte er. »Heißt es nicht übersetzt so was wie ›Schätzchen‹?«
»Nein«, fauchte Mary-Rose. »Überhaupt nicht.«
»Okay. Mary-Rose Godfrey«, sagte er mit einem theatralischen Lächeln. »Meine beste Freundin auf der ganzen Welt.«
»Hör auf, Sam.«
»Nein, ich kann nicht. Ich kann meine Gefühle für dich nicht zurückhalten. Ich kann nicht so tun, als wären wir einfach nur gute Freunde. An jedem Tag, den wir zusammen verbringen, fühle ich es in meinem Inneren, aber ich kann es dir nicht sagen.«
Kitty erstarrte. Bei seinen Worten wurde ihr mulmig. Und wenn sie sich schon so fühlte, wie mochte es da erst Mary-Rose ergehen?
»Wir kennen uns schon, seit wir sechs Jahre alt sind. Als du am ersten Schultag in unsere Klasse spaziert bist, die Schuhe falsch rum an den Füßen, da wusste ich, du bist ein Mädchen, mit dem ich reden kann.«
Auf einmal fing Mary-Rose an zu lachen. »Stimmt«, sagte sie, ehrlich überrascht.
Also las Sam heute Abend nicht von seinem Skript ab. Meinte er es womöglich ernst?
»Und dann haben wir angefangen zu reden, und als wir uns darüber stritten, wer mit dem gelben Lego spielen darf, da hast du mich gezwickt, und der Lehrer hat dich ausgeschimpft, und du musstest in der Ecke stehen. Da habe ich gedacht, toll, das Mädchen hat Mumm. Ich möchte der Freund von diesem Mädchen sein – nicht dass ich eine Schwäche für Mädchen habe, die an Ecken rumstehen oder so«, endete er, und alle lachten. Alle außer Mary-Rose. Sie lächelte nicht mal, aber nicht, weil sie sich schämte, sondern weil sie traurig war, das sah man ihr deutlich an. Sams Worte berührten sie, aber so hart an der Schmerzgrenze, dass Kitty plötzlich doch an seiner Glaubwürdigkeit zweifelte. Sie sah, dass es Mary-Rose ebenso ging, denn sie hob das Kinn und musterte ihn skeptisch.
»Die ganze Schulzeit über waren wir Freunde, obwohl deine Mutter dich später auf die Klosterschule geschickt hat und du sechs Jahre deines Lebens diesen wenig schmeichelhaften knielangen braunen Rock und Kniestrümpfe tragen musstest. Und ich konnte gut damit umgehen, dass du meine Freundin bist, aber in den letzten Monaten, als ich …« Er sah sie an.
»Ist das jetzt echt?«, flüsterte Steve Kitty zu, und sie bekam wieder eine Gänsehaut.
»Ich weiß es ehrlich nicht«, antwortete sie ebenfalls flüsternd, so dicht an seinem Ohr, dass ihre Lippen sein Ohrläppchen berührten. Sofort durchzuckte sie ein elektrisches Kribbeln.
Einen Moment war sie abgelenkt von ihren eigenen Gefühlen, aber dann versuchte sie sich wieder auf das Drama ihr gegenüber zu konzentrieren.
Sam ging zu Mary-Rose, ein paar Leute standen auf und verfolgten das Schauspiel mit angehaltenem Atem. Anscheinend glaubten alle, dass das, was sich hier abspielte, real war.
»Mary-Rose Godfrey, du bist meine beste Freundin, seit wir Kinder waren, aber ich kann es nicht länger verbergen: Ich bin total in dich verliebt. Ich weiß, das scheint jetzt vielleicht übertrieben und schrecklich dramatisch. Aber ich weiß, dass wir richtig füreinander sind. Willst du … willst du mich heiraten?«
Mary-Roses Augen leuchteten auf, Tränen glitzerten in ihnen. Sie sah hingerissen, entzückt und absolut glücklich aus, und jetzt glaubte sogar Kitty, dass alles wahr war und dass Sam es vollkommen ernst meinte.
Der ganze Garten applaudierte, und dann folgte die obligatorische Stille. Doch während alle klatschten und jubelten und sich gegenseitig anlächelten, verpassten sie Sams Zwinkern, das auf Kitty denselben Effekt hatte wie auf Mary-Rose. Das Zwinkern zerstörte die
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