Hundert Namen: Roman (German Edition)
dieser Liste weder ein Exposé noch Stichworte und auch keine Erklärung, wer diese Leute waren oder worum es in dem Artikel gehen sollte. Sooft Kitty auch in den Umschlag schaute – da war nichts mehr.
»Was steht denn da?«, fragte Pete, der das Schweigen nicht mehr aushielt.
»Es ist eine Liste mit Namen«, antwortete Kitty verwirrt.
Die Namen waren ordentlich getippt und von eins bis hundert durchnummeriert.
»Bekannte Namen?«, fragte Pete und reckte sich so weit über den Tisch, dass er praktisch darauf lag.
Kitty schüttelte den Kopf und kam sich schon wieder vor wie ein Versager. »Vielleicht kennt ihr sie ja«, antwortete sie und schob das Papier über den Tisch. Wie Löwen auf ein Stück Frischfleisch stürzten die anderen sich darauf. Kitty beobachtete ihre Gesichter und hoffte, dass sie etwas erkannten, aber als die drei endlich die Köpfe hoben, sahen sie genauso verwirrt aus wie Kitty. Einerseits erleichtert, andererseits noch konfuser ließ Kitty sich auf ihren Stuhl zurücksinken. Hätte sie wissen sollen, was diese Namen bedeuteten? Hatte Constance womöglich einmal mit ihr darüber gesprochen? Gab es eine versteckte Botschaft?
»Was ist sonst noch in dem Umschlag?«, wollte Pete wissen.
»Nichts.«
»Lass mich sehen.«
Schon wieder glaubte er ihr nicht, und absurderweise fing Kitty sofort an, ebenfalls an sich zu zweifeln – obwohl sie doch schon zweimal nachgeschaut hatte. Natürlich stellte auch Pete fest, dass keine weiteren Informationen in dem Umschlag enthalten waren, und warf ihn auf den Tisch zurück. Kitty nahm ihn hastig an sich, als müsste sie ihn beschützen.
»Hat sie sich vielleicht irgendwo Notizen gemacht?«, erkundigte sich Pete bei Bob. »Auf Papier oder im Computer? Vielleicht hat sie ja irgendwas im Büro hinterlegt.«
»Wenn, dann bestimmt unten«, antwortete Bob und ließ den Blick erneut über die Namen schweifen. »Meine liebe Constance, was in aller Welt hast du damit nur im Schilde geführt?«
Kitty musste lachen. Constance hätte diese Situation geliebt – wie sie sich alle um die Liste drängten und sich ratlos am Kopf kratzten. Und die Tatsache, dass sie dafür verantwortlich war, hätte Constance nur noch mehr amüsiert.
»Das ist wirklich nicht lustig, Kitty«, meinte Pete tadelnd. »Das Feature ist vollkommen sinnlos, wenn wir keine Geschichte von Constance dazu haben.«
»Da bin ich anderer Meinung«, widersprach Kitty, selbst überrascht. »Es ist der letzte Beitrag, den Constance für die Zeitschrift vorgeschlagen hat.«
»Mir wäre es trotzdem lieber, wenn wir auch Constances Geschichte verwenden könnten«, beharrte Pete. »Ich möchte, dass sie den Kern des Ganzen bildet. Wenn wir Constances Geschichte nicht haben, weiß ich nicht, ob die Idee wirklich etwas bringt.«
»Aber Constances Geschichte ist bloß eine Liste mit Namen«, sagte Kitty und verlor wieder ihr Selbstvertrauen. Sie wollte nicht, dass der Tribut ausschließlich von ihr und ihrer Fähigkeit abhing, zu entschlüsseln, was diese Liste bedeutete. Die Zeit war knapp, und zu allem Überfluss machte Kitty gerade eine der schlimmsten Krisen ihres Lebens durch. Sie fühlte sich ausgelaugt, und ihr Glaube an sich selbst befand sich auf einem absoluten Tiefpunkt. »Wir haben keinerlei Hinweis darauf, worauf Constance damit hinauswollte oder was es für sie bedeutet hat.«
»Na ja, dann macht eben doch Cheryl den Artikel«, warf Pete ein und überrumpelte damit alle. »Sie wird es schon herausfinden.« Er klappte seinen Aktenordner zu und richtete sich auf. »Bei allem Respekt – ich glaube wirklich, dass Kitty es machen sollte«, widersprach Bob.
»Aber sie hat doch gerade selbst gesagt, dass sie Zweifel hat, ob sie es schafft.«
»Sie braucht nur ein bisschen Ermutigung, Pete«, meinte Bob, nun schon ein bisschen bestimmter. »Es ist ja auch eine ziemlich einschüchternde Aufgabe.«
»Na gut«, lenkte Pete unvermittelt ein. »Wir haben zwei Wochen, bis wir in Druck gehen. Du hältst mich auf dem Laufenden, Kitty, ich hätte gern jeden Tag ein Feedback von dir.«
»Jeden Tag?«, fragte sie verwundert.
»Japp«, antwortete er nur, packte seine Sachen und machte sich auf den Weg in Constances Büro, das jetzt seines war.
In diesem Moment wusste Kitty, dass ihre TV-Suspendierung, die Schmierereien an ihrer Wohnungstür, das Scheitern ihrer Beziehung und der verlorene Prozess erst der Anfang waren und dass die wirklich gravierenden Auswirkungen ihres Fehlers noch vor ihr
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