Hundert Namen: Roman (German Edition)
Zeit anzufangen – entweder umarmt sie Bäume, oder sie geht alten Menschen auf die Nerven, und wenn sie die Bäume so oft nervt, wie sie die alten Menschen umarmt, können die sie bestimmt auch nicht besonders gut leiden. Da drüben«, sagte sie und führte Kitty unter einem Torbogen hindurch zu einer Bank. »Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist wunderbar, dass Besuch kommt«, beteuerte sie. »Manchmal werden die alten Leutchen hier ein bisschen einsam, aber einigermaßen vernünftige Besucher wären schon mal ein ganz guter Anfang.«
Von fern hörten sie, wie das Klavier angeschlagen wurde, und kurz darauf die Stimme der Dreadlock-Frau, die anfing This Little Light of Mine zu singen.
»Bekommt Bridget abends keinen Besuch?«
»Ihre Familie hat immer nur an den Wochenenden Zeit für sie. Wir sind nicht so leicht zu erreichen, wie Sie wahrscheinlich schon festgestellt haben. Aber keine Sorge, ein Abendbesuch stört Birdie bestimmt nicht im mindesten, ich glaube sogar, es gefällt ihr. Machen Sie es sich gemütlich, ich bringe sie zu Ihnen.«
Damit wanderte sie in Richtung der kleinen Bungalows davon, die ganz in der Nähe standen. Kitty sah sich um und wartete, machte Notizbuch und Aufnahmegerät bereit und war gespannt, was für eine Geschichte sie erwartete.
Schließlich erschien Bridget. Sie war eine zierliche Frau, die sich langsam bewegte, aber eher im Stil einer Ballettlehrerin als einer alten Frau. Ihre grauen Haare waren ordentlich zurückgesteckt, kein Härchen verrutscht, auf den rosa geschminkten Lippen lag ein sanftes Lächeln, und sie musterte Kitty aufmerksam, als überlegte sie, ob sie ihre Besucherin kennen müsste. Sie war gepflegt und elegant gekleidet, als würde sie sehr auf sich achten, auch wenn sie nicht vorhatte, sich mit jemandem zu treffen.
Kitty stand auf, um sie zu begrüßen.
»Ich bin gleich mit dem Tee zurück. Für Sie auch einen, Kitty?«
Kitty nickte und wandte sich Bridget zu. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Bridget«, sagte sie und stellte überrascht fest, dass es tatsächlich so war. Endlich hatte sie Kontakt zu jemandem von Constances Liste aufgenommen, sie fühlte sich aufs Neue mit ihrer Freundin verbunden und war bereit, sich auf die Reise zu begeben, die Constance eigentlich für sich geplant hatte, nun aber nicht mehr selbst zu Ende führen konnte.
Auch Bridget schien sich über den Besuch zu freuen. »Nennen Sie mich doch Birdie, bitte. Wir kennen uns also noch nicht.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
»Nein, noch nicht.«
»Zwar prahle ich gern mit meinem guten Gedächtnis, aber es gibt Momente, da lässt es mich im Stich«, lächelte Bridget, und Kitty erkannte den leicht singenden Akzent der Gegend von Cork in ihrer Stimme.
»Aber diesmal nicht. Wir sind uns wirklich noch nie begegnet. Aber wir haben eine gemeinsame Bekannte, die Sie getroffen haben oder mit der Sie zumindest Kontakt hatten, und deswegen bin ich hier. Ihr Name ist Constance Dubois.« Vor Aufregung war Kitty auf der Bank ganz nach vorn gerutscht und wartete darauf, dass Birdies Augen bei der Erwähnung von Constances Namen aufleuchteten. Doch nichts dergleichen geschah, und wieder senkte sich eine Wolke über Kittys Enthusiasmus. Um dem Gedächtnis der alten Frau auf die Sprünge zu helfen, zog sie ein Exemplar von Etcetera aus der Tasche. »Ich arbeite für diese Zeitschrift hier. Constance Dubois war die Herausgeberin, und sie hatte eine Idee für eine Geschichte, an der Sie auch beteiligt sind.«
»Ojemine.« Birdie schob ihre Brille hoch und blickte von der Zeitschrift auf. »Ich fürchte, da haben Sie die Falsche erwischt. Tut mir leid, dass Sie den ganzen weiten Weg umsonst gemacht haben, aber ich habe nie etwas gehört von Ihrer Freundin …«
»Constance.«
»Ja, Constance. Ich fürchte, sie hat sich nie mit mir in Verbindung gesetzt.« Noch einmal schaute sie auf die Zeitschrift, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern. »Und diese Zeitschrift habe ich auch noch nie gesehen. Tut mir wirklich leid.«
»Constance Dubois hat sich nie bei Ihnen gemeldet?«
»Leider nein.«
»Sie haben keinen Brief von ihr bekommen, keine E-Mail oder sonst eine Nachricht?« Kitty war so verzweifelt und frustriert, dass sie kurz davor war, Birdie zu fragen, ob in ihrer Familie vielleicht Fälle von Alzheimer bekannt waren.
»Nein, nichts dergleichen, tut mir leid. Daran würde ich mich bestimmt erinnern. Ich bin seit sechs Monaten hier, vielleicht ist sie ja von
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