Hundert Namen: Roman (German Edition)
immer merkwürdiger.
Birdie spürte ihr Zögern. »Wie viele Namen stehen auf der Liste?«
»Insgesamt hundert.«
»Ach du liebe Zeit«, flüsterte die alte Frau. »Und keiner von denen weiß, worum es in dieser Geschichte gehen soll?«
»Sie sind die Erste, die ich gefunden habe.«
»Hoffentlich haben Sie bei den anderen mehr Glück.«
Das hoffe ich auch, dachte Kitty, sprach es aber nicht aus.
Mit reichlich Aufmunterung von Kitty begann Birdie – wie sie auch jetzt genannt werden wollte –, über ihr Leben zu sprechen, angefangen mit ihrer Kindheit, bis hin zur Jetztzeit. Kitty hielt ihre Fragen zunächst recht allgemein und notierte sich, an welchen Stellen sie bei ihrem nächsten Besuch gern noch etwas tiefer schürfen wollte. Zuerst war Birdie ziemlich schüchtern, wie die meisten Leute, wenn sie über sich selbst sprachen, ließ Informationen aus, erzählte mehr von anderen als von sich selbst, aber am Ende hatte sie sich warmgelaufen, und ihre Erinnerungen legten bei jeder neuen Frage einen Gang zu.
Birdie war vierundachtzig und in einem kleinen Ort im County Cork im Südwesten Irlands aufgewachsen. Ihr Vater war Lehrer gewesen und hatte zu Hause ein ebenso strenges Regiment geführt wie in der Schule; ihre Mutter war jung gestorben, als Birdie noch ein Kind war. Sie hatte drei Schwestern und einen Bruder und war mit achtzehn nach Dublin gezogen, wo sie bei einer Familie gewohnt und sich um deren Kinder gekümmert hatte. Im gleichen Jahr war sie ihrem Ehemann Niall begegnet, die beiden hatten geheiratet und sieben Kinder bekommen – sechs Jungen und ein Mädchen, die heute zwischen fünfundsechzig und sechsundvierzig Jahre alt waren. Ihr letztes Kind, ihre Tochter, hatte Birdie mit achtunddreißig zur Welt gebracht. Allerdings schien das weniger mit Familienplanung zu tun gehabt zu haben als damit, dass ihr Mann auf der Couch schlafen musste. Die sieben Kinder waren zuerst in Cabra aufgewachsen und danach in dem Haus in Beaumont, das Kitty am Nachmittag besucht hatte. Agnes, ihre Nachbarin, schien in dieser Zeit fast mehr an der Kindererziehung beteiligt gewesen zu sein als Birdies Mann, der seine Arbeit als Verwaltungsbeamter sehr ernst genommen hatte und selten zu Hause gewesen war.
Obwohl Birdie ein interessantes und vielfältiges Leben geführt hatte, sprang Kitty auf Anhieb nichts Außergewöhnliches ins Auge. Auch die alte Frau schien sich regelrecht zu schämen, weil sie nichts Aufregenderes erlebt hatte, und entschuldigte sich immer wieder. Kitty beruhigte sie und beteuerte, dass sie das Interview nicht im Geringsten langweilig fand und dass Birdie eine inspirierende Frau war, ein Vorbild, mit dem viele Frauen sich identifizieren konnten.
Auf dem Heimweg sah Kitty ihre Notizen durch und bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie das Gefühl hatte, dass Birdies wunderbares erfülltes Familienleben nicht genug war.
Noch lange nachdem Kitty gegangen war, saß Birdie auf der Bank im Garten, wo jetzt Wegeleuchten und Laternen brannten, und dachte über den Mangel an Aufregung in ihrem Leben nach. Sie hatte das Gefühl, dass ihre schlichten Antworten die junge Frau, die über eine Stunde mit ihr verbracht hatte, trotz ihrer gegenteiligen Beteuerungen keineswegs beflügelt hatten. Birdie glaubte keine Sekunde, dass ihr Leben für irgendjemanden interessant sein könnte, es war ja für sie selbst nicht immer spannend gewesen, aber es war ihr Leben, sie hatte es gemocht, und es war ihr nie über den Kopf gewachsen.
Den ganzen Abend blieb sie im Bann ihrer Erinnerungen, und Walter setzte sie gleich nach der Eröffnung ihrer Schachpartie matt.
Nächste Woche wurde Birdie fünfundachtzig – natürlich wusste sie Geschichten zu erzählen, natürlich hatte sie Geheimnisse, das war ja bei jedem Menschen in diesem Alter so. Aber es fiel ihr schwer zu entscheiden, welche Kitty hören und welche sie selbst gern erzählen wollte.
Auf dem Heimweg im Taxi ignorierte Kitty gezielt Petes Anrufe. Sie wollte ihm nicht gestehen müssen, dass sie mit der Geschichte immer noch nicht weitergekommen war, sie hatte keine Lust auf seinen herablassenden Ton, seine Kritik, seine Ermahnungen und Zweifel. Also stellte sie ihr Handy auf lautlos und verpasste demzufolge auch einen anderen Anruf. Als sie die Mail- box abhörte, redete eine Frauenstimme so laut, dass der Taxifahrer sich irritiert nach ihr umdrehte und sie die Lautstärke drosseln musste.
»Hi, Kitty! Hier spricht Gaby O’Connor, Eva Wus
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