Hundert Namen: Roman (German Edition)
»Molly«, rief sie und musterte Kitty dabei von oben bis unten. »Molly, wo ist Birdie?«
»Sie hat sich hingelegt«, antwortete eine junge Krankenschwester mit blauen Haaren und blaulackierten Fingernägeln in gelangweiltem Ton und ohne von ihrer Karteikarte aufzublicken.
»Soll ich zu ihr aufs Zimmer gehen?«, fragte die Frau mit den Dreadlocks. »Ich hab nämlich die Engelkarten mitgebracht, von denen ich ihr erzählt habe.«
Molly schaute Kitty an und zog eine Augenbraue hoch, als wollte sie sagen: ›Kein Wunder, dass Birdie sich hingelegt hat.‹
Die Dreadlock-Frau sah ein bisschen beleidigt aus, wie ein kleines Mädchen, dessen Freundin nicht mit ihm spielen will.
Molly seufzte. »Ich schau mal nach ihr, ob sie Lust hat, in den Gemeinschaftsraum zu kommen.«
Während die dreadlockige Frau auf die Rückkehr der Schwester wartete, sagte sie laut zu einem alten Mann neben ihr: »Seth, möchten Sie ein Gedicht hören, das ich letzte Woche geschrieben habe?« Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie sich zu ihm und begann zu rezitieren wie eine Sechsjährige in einem Schönsprech-Kurs. Mit etwas müdem Gesicht hörte Seth ihr zu.
Kitty beobachtete unterdessen, wie Molly den Korridor hinunterging, vor einer Toilette haltmachte, sich an die Tür lehnte und ihre Nägel inspizierte. Kitty lächelte. Nach zehn Sekunden kam Molly zurück und rief der Frau mit den Dreadlocks zu: »Sie macht ein Nickerchen!«
»Seth braucht neue Batterien«, sagte die Schwester, die sich um Kitty kümmerte, zu Molly, als sie an die Rezeption zurückkam.
Molly sah zu der Dreadlock-Frau, die immer noch ihr Gedicht rezitierte: »Vielleicht sollten wir ihn ein paar Minuten ohne Batterien lassen.« Kitty gefiel Mollys Art ausgesprochen gut.
»Entschuldigung, wie war noch mal Ihr Name?«, fragte die rundliche Schwester mit dem strengen Gesicht schließlich und blickte vom Gästebuch auf.
»Kath- …« Kitty stockte, denn sie merkte, dass sie ihren üblichen professionellen Namen nicht über die Lippen brachte. »Kitty Logan«, antwortete sie dann.
»Und Sie haben einen Besuchstermin bei Bridget vereinbart?«
»Nein, eigentlich nicht, ich dachte nur, ich schau mal vorbei«, antwortete Kitty, so freundlich sie konnte. Wie irgendjemand hier einfach vorbeischauen konnte, ließ sie wohlweislich offen – man hätte nicht mal eine Rakete darauf programmieren können, dieses Haus anzuvisieren.
»Wir erlauben nur Besuche nach Vereinbarung«, antwortete die Schwester streng, ohne ein Lächeln, und Kitty war sofort klar, dass die Sache nicht einfach werden würde.
»Aber wo ich doch jetzt schon mal hier bin und den langen Weg gemacht habe – könnten Sie ihr da nicht wenigstens sagen, dass ich da bin, und sie fragen, ob sie mich sehen möchte? Sie können ihr ausrichten, Agnes hat gesagt, dass ich in Ordnung bin«, fügte sie lächelnd hinzu.
»Das widerspricht leider unseren Richtlinien. Sie müssen noch mal wiederkommen, wenn Brenda das möchte …«
»Bridget. Ich möchte zu Bridget Murphy«, unterbrach Kitty etwas ungehalten. Bisher hatte sie noch mit keinem Menschen von der Liste Kontakt aufnehmen können, die Zeit wurde knapp, ihre Geduld war am Ende, und sie hatte nicht vor, das Gebäude zu verlassen, ohne Bridget gesehen oder wenigstens jemanden geohrfeigt zu haben, egal wen, aber am liebsten die Schreckschraube vor ihr.
»Also wirklich.« Die Schwester stemmte die Hände in die rundlichen Hüften und machte ein Gesicht, als hätte sie vor, Kitty übers Knie zu legen.
»Bernadette«, schaltete sich die blauhaarige Pflegerin ein. »Ich kümmere mich darum – warum gehen Sie nicht zu Seth, der mag Sie sowieso viel lieber als mich.«
Bernadette sah ihre Kollegin an, verärgert, weil sie in ihrer Strafpredigt unterbrochen worden war, räumte dann aber mit einem letzten Zähnefletschen das Feld und ging zu Seth.
»Folgen Sie mir«, sagte Molly und machte sich auf den Weg zum hinteren Anbau.
Großartig, dachte Kitty, hier hatte man also nicht mal genug Mumm, um sie zur Vordertür rauszuschmeißen. Als sie in den üppigen, gepflegten Garten hinaustraten, brach Molly endlich das Schweigen. »Machen Sie sich nichts draus, sie war in ihrem letzten Leben Feldwebel, und in diesem auch noch ein frustrierter«, sagte sie. »Birdie hasst die Besuchszeit. Diese Hippie-Tussi da drin geht allen auf die Nerven, aber sie hat es besonders auf Birdie abgesehen. Wenn ich könnte, würde ich sie erwürgen. Sie weiß nichts Besseres mit ihrer
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