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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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flohen ins Blockhaus. In der engen Stube aßen wir zu Abend, der Junge sprach ein Tischgebet, und schweigend löffelten wir die Suppe. Eine Karbidlampe spendete funzeliges Licht, und ich betrachtete die schwieligen Hände des Försters, die Erde, die sich in den Rissen festgesetzt hatte; ich sah das zehnmal geflickte Hemd der Mutter, die Entbehrungen, die sich in ihren Gesichtern als tiefe Furchen festgesetzt hatten, und ich dachte an Haus Amsar, an meinen gepolsterten Stuhl in der Direktion, an meine geregelten Achtstundentage. In diesem Moment bereute ich, ein Bürolist zu sein, ein Sesselfurzer, weitab von den wahren Herausforderungen, von den Problemen, von allem, was wahr war und schwierig und keinen Idealismus und keine großen Theorien brauchte, sondern nichts als tägliche und harte Arbeit.
    Nach dem Essen verabschiedeten sich die Kinder mit einem Lied zur Nacht, der Weise der napoleonischen Soldaten beim Gang über die Beresina, sangen von der Reise, der unser Leben gleiche, der Reise eines Wanderers in der Nacht, vom Kummer auf jedem Geleise, und der Aufforderung zum Mut, denn auch morgen gehe die Sonne freundlich an dem Himmel auf. Die Kinder hauchten ihren Eltern zwei Küsse auf die Wangen. Wir blieben noch eine Weile sitzen, die Frau servierte Kaffee, der so dünn war, dass selbst im fahlen Licht der Karbidlampe die Löffel bis auf den Grund der dünnen Brühe zu erkennen waren. Der General brachte das Gespräch auf Goldmann, der im Arboretum in Butare arbeitete, als Forstwissenschaftler, und er machte Andeutungen, dass dieser Mann in Schwierigkeiten geraten sei, und als wir genauer nachfragten, führte er seinen Daumen wie einen Flaschenhals an den Mund, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Mehr sagte er nicht, er war zu müde, um zu reden, ein Mann, der nicht lange sitzen konnte, ohne einzuschlafen. Er zog sich bald zurück, und der kleine Paul und ich blieben mit der Frau alleine. Selbst hundemüde, hörten wir zu, wie sie von ihrem Alltag erzählte, stockend zuerst, weil sie sich selten mit jemandem unterhielt und aus der Übung war, doch mit jedem Wort löste sich ein weiteres, als ob sich die Sätze gegenseitig aus dem Schweigen zögen. Wir lauschten bis lange nach Mitternacht, erfuhren von ihrem Kampf mit den faustgroßen Schnecken, die das Gemüse zerfraßen, von der miserablen Qualität der Waren, die sie in der Einkaufsgenossenschaft kaufte, der Unzufriedenheit der Bauern über die schlechten Kaffeepreise und so weiter, und obwohl unsere Köpfe vor Müdigkeit dröhnten, blieben wir sitzen, beinahe pflichtbeflissen, jedenfalls wäre es uns egoistisch erschienen, auf unserem Schlaf zu bestehen.
    Die Hinweise auf Goldmanns Schwierigkeiten beunruhigten den kleinen Paul, und so machten wir auf der Rückreise den kurzen Umweg über Butare, die alte Hauptstadt der Belgier, und noch vor Mittag des nächsten Tages fanden wir den Forstingenieur in seiner Pension am Rande der Stadt, besinnungslos, um den Kopf einen riesigen, durchgebluteten Verband. Neben der Bettstatt lag eine leere Flasche Johnny Walker, und der beißende Gestank, der in der lichtlosen Bude hing, ließ darauf schließen, dass sich niemand um den Mann gekümmert hatte und er seit Tagen in seinem Dreck liegen musste. Die alte Twa, die die Pension führte und uns aus tiefliegenden Augen unter buschigen Brauen misstrauisch beäugte, weigerte sich standhaft, den verletzten Umuzungu auch nur anzufassen. Der kleine Paul nahm ihr das nicht übel. Die Twa sind hervorragende Töpfer und gerissene Jäger, meinte er, obwohl diese Frau vermutlich in ihrem Leben nie einen Bogen oder eine Töpferscheibe angefasst hatte, aber er wollte damit andeuten, dass sich gewisse ursprüngliche Fertigkeiten nicht mit zivilisierten Tätigkeiten wie Krankenpflege vertrugen.
    So war er, der kleine Paul. Er liebte dieses Land vorbehaltlos, und was er zuhause abgelehnt hätte, entschuldigte er hier großzügig. Er hatte sich mit keiner Faser am Zynismus angesteckt, der so viele im Internationalen Dienst nach Jahren der ergebnislosen Plackerei befällt, und abgesehen von seinem chronischen Schnupfen erfreute er sich eines ewigen Frohsinns, dessen wesentliche Ursache geputzte und in Apothekertüten abgepackte Karottenstangen waren, die Ines, seine Frau, ihm jeden Morgen bereitete. Auf dem Weg nach Butare knabberte er ohne Unterbrechung an diesem Gemüse und lobte seine Verdauung, die dank den Karotten in einem hervorragenden Zustand sei, was unter den Weißen
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