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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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seine eigene, und zudem ließ er sich keine Attraktion entgehen.
    Wir fuhren an den Wochenenden an den Kivu oder unternahmen Landpartien und Safaris in die Akagera. So ungehobelt er war, schien er doch der Einzige zu sein, der wirklich
hier
war, der sich diesem Land gefährlich näherte und sich nicht mit einer Mischung aus professionellem Eifer und kindlicher Zuversicht imprägnierte, wie alle anderen es taten, auch der kleine Paul.
    Warum sind Sie denn hier, mein lieber Freund, Sie und ihre famose Direktion? Wir saßen nach einem Sonntag in der Akagera am Lagerfeuer vor den Bungalows und aßen gebratene Antilope. In den Sümpfen hatten wir Stelzenläufer, Bekassinen und Kronenkraniche beobachtet, waren in einem Einbaum hinaus auf die Insel im See Ihema gefahren, zum Sitz des alten Königs von Mubari, wo Stanley im März 1877 auf seiner vergeblichen Suche nach den Quellen des Nils zehn verzweifelte Tage verbracht hatte. Warum arbeiten zweihundert verschiedene Organisationen in diesem Land? Warum gibt es keinen Hügel ohne Entwicklungsprojekt? Woher kommt dieser unglaubliche Drang, den Hintern des Präsidenten mit unserem Geld zu stopfen? Was denken Sie? Wenn diesen selbstlosen Helfern das menschliche Wohl am Herzen liegt, warum packen nicht einige ihre Sachen und fahren hinüber nach Katanga? Ich war dort, und ich kann Ihnen sagen: Es ist die Hölle. Die Kinder verrecken auf offener Straße, sie sterben an Durchfall, an Malaria, manche einfach nur an einer gewöhnlichen Erkältung. Man findet den Tod an jeder Ecke, Krankheit in jedem Winkel, Verderbnis und Hoffnungslosigkeit in jedem Gesicht, aber Entwicklungshelfer kriegt man dort keine zu sehen. Bloß einen Haufen Ordensschwestern, längst greise geworden, die sich daran ergötzen, Todkranken und Leprösen die Füße zu waschen. Warum packen nicht wenigstens einige ihre Koffer und fahren hinüber ins Elend anstatt sich hier gegenseitig auf den Füßen zu stehen? Ich werde es Ihnen sagen: Niemand, auch nicht der größte Menschenfreund, tauscht freiwillig das Paradies gegen die Hölle. Und er hatte recht. Hier gab es keine Mücken, keine Malaria, es war niemals zu heiß, niemals zu kalt. Das Land des ewigen Frühlings, wie man es auch nannte, war alles andere als das Herz der Finsternis, das jenseits des Kivu lag und das wir an klaren Tagen sehen konnten. Es schauderte uns, wenn wir die Feuchtigkeit als schwere Wolken aus den Wäldern im endlosen Kongobecken steigen sahen. In manchen Provinzen wütete immer noch die Pest, man hörte von Plantagen in Katanga, wo die weißen Herren seit 1963 tot in ihren Betten liegen sollten. Wir alle hatten Conrads
Heart of Darkness
gelesen, aber die Welt, die dort beschrieben war, hatte nichts mit dieser hier zu tun. Wir identifizierten uns nicht mit Kurtz und auch nicht mit Marlow, obwohl wir die bewundernden Blicke unserer Verwandten mochten, wenn sie erfuhren, wie nahe wir dem Dschungel waren. Aber tatsächlich waren wir weiter von ihm entfernt als die Menschen in den Städten Europas. Im Nyungwe war jeder Vogel gezählt und jeder Baum kartografiert, ein halbes Dutzend internationaler Abkommen schützte ihn, und wenn sich ein wild gewordener Bauer erdreistete, auch nur eine dreijährige Pinie zu fällen, dann war ihm und seiner Familie die Schande des ganzes Landes gewiss. Außer im Graben von Bugarama gab es keine Malaria, nur selten Gelbfieber, keine Bilharziose, Ebola war unbekannt. Bei uns auf den Hügeln war die Luft trocken und rein, und niemand mochte diesen Platz mit den feuchten, von Mücken verseuchten Sümpfen tauschen. Das war Misslands Erklärung, und es war eine beunruhigend gute Erklärung, und für ihn doch nur der kleine Teil der Wahrheit, warum wir uns gerade dieses Land ausgesucht hatten.
    Der wichtigste Grund für unsere Liebe zu diesem Land war nach Misslands Ansicht die Tatsache, dass es hier keine Neger gab. Die Menschen sahen zwar aus wie Neger, hatten schwarze Haut und krause Haare, aber in Wirklichkeit waren es afrikanische Preußen, pünktlich, die Ordnung liebend, von ausgesuchter Höflichkeit. Sie spuckten niemals auf den Boden, hassten Musik und waren ganz miserable Tänzer. Und vor allem funktionierte ihr Staatswesen, sie taten, was immer die Abagetsi, die großen Tiere, ihnen auftrugen, und sie verrichteten die Arbeit zuverlässig und ohne zu murren.
    Und zudem waren wir dort, weil wir immer dort gewesen waren, seit den frühen sechziger Jahren. Es war unser Land, es gehörte uns genauso, wie es

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