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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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Träumen.
    Es war ein Kuhregen, der ausgerechnet am nächsten Morgen niederging, ein plötzlicher, heftiger Wolkenbruch mitten in der Trockenzeit. Während ich und der kleine Paul die Stadt nach einem Leichenwagen absuchten und nichts als einen mit Hühnerdreck verklebten Pick-up fanden, den wir einem Experten der Direktion unmöglich zumuten konnten, nicht einmal, wenn er steif und tot war, hatte man Goldmann in der Krankenstation für die Überführung nach Kigali vorbereitet, die Leiche gewaschen und in einen Sarg aus Holz der Sorte Tereticornis gelegt. In Goldmanns Aufzeichnungen hatte ich über diesen schnellwachsenden Eukalyptus gelesen. Es war ein Baum dieser Art, den deutsche Missionare an den Kivu gebracht und, eben derselbe, den sie im Jahre neunzehnhundertzwölf als ersten Eukalyptus des Landes gefällt hatten. Sein Holz war von rötlicher Farbe, hart, beständig, und verrottete äußerst langsam, eine Eigenschaft, die es zu einer schlechten Heimstatt für Verstorbene machte.
    Das Land war übervölkert, und in der Provinz Butare war die Lage besonders hoffnungslos. Auf jeden Toten kamen drei Neugeborene, Mäuler, die man irgendwie stopfen musste, und wenn das Wachstum so weiterginge, würden in fünfzehn Jahren doppelt so viele Menschen dieses Land bewohnen. Schon jetzt konnte der Hunger nach Land nicht mehr gestillt werden, die Hügel waren bis in die Kammlagen kultiviert; selbst den Toten gönnte man kaum ihre Gräber, ließ, weil man die Erde dort nicht brachliegen lassen wollte, wenigstens die Ziegen auf den Friedhöfen weiden. Nach zehn Jahren wurden die Gräber ausgehoben, und oft genug kamen die unversehrten Tereticornis-Särge zum Vorschein. Goldmann hatte den zuständigen Behörden erklärt, sie sollten eine weichfaserige Art wählen, Hölzer der Sorte Pellita oder Rubida. In seinen Aufzeichnungen beklagte er sich bitter über die Bürokraten, die zugehört, beigepflichtet und dann trotzdem nichts unternommen hatten, und auch ich und der kleine Paul hatten schwer an der Sturheit der Behörden zu tragen, das Holz wog wie Blei, und zu allem Unglück war der Sarg zu lang für Pauls Toyota Tercel, der uns aus Mangel einer anderen Möglichkeit als Leichenwagen dienen musste. Paul haderte kurz damit, dass wir die Hecktüre nicht schließen konnten und die sterblichen Überreste wie einen alten Geschirrschrank nach Kigali transportieren mussten. Dies ist eben Afrika, meinte er dann und fixierte die Tür mit einem Stück Gummiseil.
    Der Himmel hatte sich längst aufgehellt, aber der mittägliche Regen hatte die Straße in eine Rutschbahn verwandelt. Vorsichtig steuerte Paul den Wagen nach Kigali, und oft brach in den Kurven das schwer beladene Heck aus. Was mich aber mehr beunruhigte, waren die Menschen, die unseren Transport begleiteten. Die Nachricht, dass zwei Abazungu einen toten Kollegen nach Kigali fuhren, bewegte sich schneller als unser Wagen. Der Kordon, der ewig, vom ersten Tageslicht bis zum letzten Sonnenstrahl, die Straßen dieses Landes säumte, ein Kordon aus Marktfahrern, die ihre Ware in Schubkarren transportierten, Frauen, die volle Körbe von den Feldern nach Hause trugen, Männer, die mit irgendwelchen Papieren zur nächsten Gemeindeverwaltung marschierten – er verwandelte sich schon kurz nach Rubona in ein Trauerspalier, einen Geleitzug für den toten Ingenieur. Die Menschen, die wir passierten, blieben einen Moment stehen und wandten sich uns zu. Frauen setzten ihre Last ab, nahmen ihre Kinder an die Hand, und wer einen Hut trug, lüftete ihn.
    In den Tagen nach Goldmanns Tod war ich durch die anfallenden Arbeiten abgelenkt. Wir hatten seine einzige Angehörige, eine Schwester, zu verständigen, die Seuchenpolizei verlangte ein pathologisches Gutachten, Goldmanns Hinterlassenschaft musste inventarisiert werden – aber nachdem wir den Bleisarg mit seiner Leiche in die Sonntagsmaschine der Sabena verfrachtet hatten, kehrte der alte Trott ein. Wie zuvor zogen die Tage ununterscheidbar an mir vorbei, und ich besaß viel Zeit, zu viel Zeit, um über den Entenkopf nachzudenken. Das Land hatte mir ein Zeichen geschickt, aber es sprach in Rätseln, und ich konnte mir beim besten Willen keinen Reim auf die Sache machen. Ich wusste nur eines: Ich musste die Frau finden. Seit der Schule hatte ich so gut wie nie gezeichnet, ich mag das nicht und habe auch kein Talent dazu, aber nun nahm ich Papier und Stifte und setzte mich an den Tisch. Nach und nach entstand ein Objekt, das man mit etwas
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