Hundert Tage: Roman (German Edition)
Hügel ohne Entwicklungsprojekt, keine Gemeinde, in der nicht die Schule reformiert wurde. Überall besuchten die Frauen Kurse in Familienplanung, und die Gemeindevorsteher wurden in Organisationsentwicklung geschult. Armut und Rückständigkeit setzten den Ideen keine Grenzen, Schlachthöfe, Quellfassungen, Getreidespeicher, Textilwerkstätten, Entbindungsstationen, Telefonleitungen, Schultoiletten, Jugendfarmen, Modellkäsereien, Vorratssilos – es gab nichts, was dieses Land nicht benötigte, und die zweihundertachtundvierzig verschiedenen Hilfsorganisationen übertrumpften sich gegenseitig mit immer neuen Entwicklungsprojekten.
Missland lud mich in seinen Club ein, den Kigali Hash Harriers, deren Vorsitzender er war. Wir fuhren hinaus nach Shyorongi, von dessen Anhöhe aus man die Mäander des Nyabarango überblicken konnte. Ich hatte mich ordentlich angezogen, Hemd, Kittel, lange Hose, und ich war umso erstaunter, als ich auf dem Parkplatz unterhalb des Aussichtspunktes nach und nach die Expats aus ihren Wagen steigen sah. Die meisten trugen Shorts, einige Laufkleidung, jedenfalls schien es kein formeller Anlass zu sein. Die Leute begrüßten sich wie alte Freunde, und bevor ich verstand, was vor sich ging, hatte ich mich mit einem Belgier und zwei deutschen Frauen in die Büsche geschlagen, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wonach meine Begleiter suchten, nämlich nach Wegmarken aus geschredderten Akten. Missland als Präsident hatte eine Schnitzeljagd durch die Felder gelegt. Pfeile sollten uns die Richtung weisen, Kreise mit Kreuzen bezeichneten einen Irrweg. Wir kamen durch Siedlungen, wo uns die Bauern beargwöhnten, und als wir zwei Mal hintereinander auf einen durchkreuzten Kreis stießen, steigerte sich die Aufregung der beiden Frauen, und sie faselten etwas von einer Strafe, die uns nun erwarten würde.
Tatsächlich war unsere Gruppe die letzte im Ziel, wo uns Missland und die anderen Hash Harriers grölend empfingen. Sie verfielen in einen Sprechgesang, der erst verstummte, als uns von Missland Klobrillen um den Hals gehängt wurden. So standen wir vor der versammelten Gemeinschaft am Pranger, und der Präsident verkündete das Urteil. Es war immer dieselbe Strafe: Die Verlierer hatten eine große Flasche Primus in einem Zug zu leeren. Der Belgier hatte damit keine Mühe, aber die beiden Frauen schafften weniger als die Hälfte, und als sie absetzten, nahm ihnen Missland die Flaschen weg und goss ihnen den Rest des Biers in die Unterhosen. Die Mitglieder stimmten ein Spottlied auf die beiden Pisspotte an, und als ich an die Reihe kam, holte ich tief Luft, setzte an und schaffte tatsächlich die ganze Flasche. Doch es nützte nichts. Weil ich eine Jungfrau war, wie sie es nannten, ein Frischling, zum ersten Mal auf einer Schnitzeljagd, öffnete Missland eine neue Flasche, mit der er mich taufte und als neues Mitglied willkommen hieß. Den Rest des Nachmittags verbrachten wir beim Barbecue, mit Bier, zotigen Späßen und den neuesten Gerüchten der Expats.
Im Koordinationsbüro bekamen sie Wind von meiner neuen Bekanntschaft, und sie hatten keine Freude daran. Überhaupt betrachtete man die anderen Entwicklungsorganisationen mit Missgunst, vor allem die privaten. Die Direktion beanspruchte die Führerschaft, schließlich waren wir seit dreißig Jahren im Land, hatten die besten Kontakte zu den Behörden, und man achtete eifersüchtig darauf, dass es auch so blieb. Missland und seine Freunde seien für einen Mitarbeiter der Direktion kein Umgang, meinte der kleine Paul, schlecht für die Moral, noch schlechter für die Reputation, aber irgendwie musste ich meine Freizeit verbringen und Paul hatte nichts Gleichwertiges zu bieten. Er hielt sich von allen Vergnügungen fern, machte seine Arbeit, und nach Feierabend fuhr er auf direktem Weg nach Hause, zu seiner Frau Ines und dem halbwüchsigen Sohn, und zu seiner Mineraliensammlung natürlich.
Misslands anzügliche Geschichten, das Gemisch aus Gerüchten und Selbsterlebtem, seine Sucht, hinter allem eine böse Absicht, gar eine Verschwörung zu vermuten und Geschehnisse, die nichts miteinander zu tun hatten, in einen Zusammenhang zu bringen, faszinierten mich. Er dachte so ganz anders als die anderen Experten und Kooperanten. Ihm schienen die Resultate egal zu sein, es war der Weg selbst, der ihn interessierte, die Abzweigungen, Seitenwege, auf denen man sich verlieren konnte. Er hatte eine Schwäche für die moralische Korruption, zumal für
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