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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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und überhaupt keiner der Koordinatoren, ob sich diese Leute hier auch veränderten.
    Und trotzdem hieß es wenig später, das Land versinke im Chaos, aber das ist Unsinn, es war kein Chaos. Bloß weil ein paar Leichen auf den Straßen lagen, heißt das noch lange nicht, dass Unordnung herrschte.
    Gut, ich gebe zu, es waren ein bisschen mehr als nur ein paar Leichen, aber das einzige Chaos, das je in Kigali herrschte, war jenes, das beim Papstbesuch ausbrach, ein Chaos, das mich beinahe das Leben kostete und das Ende der guten alten Zeit markierte. Danach begann der Krieg, und es war, als wäre der Besuch des polnischen Oberhirten der erste Kanonenschuss gewesen.
    Am Samstagmorgen des Papstbesuches stand Missland vor meiner Tür in Haus Amsar. Frisch rasiert, in eine Wolke von Old Spice gehüllt, die langen Haare nach hinten geklebt, als sei er vor fünf Minuten aus der Dusche gestiegen. Sie wollen sich doch nicht den Stellvertreter Christi entgehen lassen, meinte er, aber ich dachte an das Dienstschreiben, von Marianne unterschrieben, das in der Küche am Kühlschrank hing. Es erteilte den Mitarbeitern einen zweiundsiebzigstündigen Hausarrest. Wir sollten das Personal anweisen, genügend Trinkwasser und Vorräte zu besorgen, damit wir das Wochenende sicher und wohlversorgt in unseren Häusern verbringen konnten. Weiß Gott, warum, jedenfalls saß ich kurz darauf in Misslands Wagen. Schon in Kyovou herrschte ein unbeschreibliches Gedränge, Pilger zogen in Gruppen durch die Straßen, und von weiter oben, vom Hügel hinab, drang das dumpfe Dröhnen der Massen, die hinaus zum Stadion drängten. Noch kamen wir zügig vorwärts, aber schon auf der Place de la Constitution verdickte sich das Gerinnsel zu einer Stockung. Missland legte den Kriechgang ein und wir fuhren im Schritttempo durch die Menge. Arm an Arm, Ohr an Ohr standen sie, zu zehnt hingen sie an den Kandelabern, Ordensschwestern neben halbnackten, angetrunkenen Burschen, Beamte in Schlips und Anzug aus der Hauptstadt neben Bauern aus den entlegensten Gebieten des Nordens. Von jenseits der Grenze waren sie gekommen, aus den Wäldern des Kongobeckens und aus den Ebenen in Uganda, sie waren über die Berge geklettert und mit Booten über den See gerudert, von den Vulkanhängen waren sie herabgestiegen, hatten ihre Pyrethum-pflanzungen zurückgelassen, sie kamen aus dem Süden, wo Kartoffeläcker die Hügel überziehen. Schreiner waren da, Säger, und auch die Schmiede, als einzige Handwerker von den Entwicklungshelfern sich selbst überlassen, uneinsichtig und zu keinen Neuerungen bereit, weil sie im Dünkel ihrer Kaste lebten, sich etwas auf ihre Vergangenheit einbildeten, als sie den Kriegern und den Königen die Speere geliefert hatten. Kuhhirten, die man sonst nie zu Gesicht bekam und die das Land für diesen einen Tag ausgespuckt hatte. Mütter, ein Kind an jedem Finger, Ziegelbrenner, die ihre brennenden Öfen zurückgelassen hatten; Bierbrauerinnen, die das erste Mal in ihrem Leben keine Hirse angesetzt hatten: Sie drängten hinaus zum Stade Régional de Nyamirambo, wo der Stellvertreter Christi erscheinen sollte, der Mann mit der schneeweißen Mitra und dem Palladium auf der Brust, und alle wollten ihn sehen, obwohl man keinen von ihnen gerufen hatte. Nur die intellektuelle Elite war geladen, Journalisten, Diplomaten, die Mitglieder der Ministerialbürokratie, aber wie Luft in ein Vakuum strömten ihm die einfachen Leute entgegen, und ich, mit Missland eingeschlossen in seinem Toyota Cruiser, betäubt vom Lärm, ich erkannte in jenem Moment den wahren Reichtum dieses Landes: den Reichtum an Menschen.
    Was sich sonst über das Land verteilte, staute sich nun auf den Hügeln Kigalis, wie zuhause, wenn sich im Sommer an den Berghängen die Wolken zusammenziehen, oder im Herbst, wenn aus dem hohen Norden die Bergfinken kommen, millionenfach, um die Bucheckern zu ernten. Dann vereinigen sich riesige Schwärme, und die Luft ist erfüllt von ihrem Geschrei, der Waldboden weiß von ihrem Kot. Und wie diese Vögel von etwas gelenkt werden, das größer ist als ihr Bewusstsein, so wurden diese Menschen von einer Macht getrieben, gegen die sie sich nicht wehren konnten. Keine Armee der Welt hätte diese Menge aufhalten, keine Mauer sich diesem Strom widersetzen können, der sich von der Place de la Constitution hinauf zum Hotel Baobab ergoss, und mittendrin wir, ich, David Hohl, und dieser stinkende Missland, grinsend, rotbackig. Zäh wie Melasse schob sich die

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