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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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häufiger das Weiße in den Augen der Menschen gesehen, den Wahnsinn zum Frühstück begrüßt. Wir hatten viel zu tun, wir hätten sieben Tage in der Woche ackern können, die Arbeit wäre uns nicht ausgegangen. Und trotzdem langweilten wir uns. Wir saßen im Herzen des schwarzen Kontinents, aber es war einfach nicht heiß genug, um den metaphysischen Schreck zu fühlen. Wir hätten uns gerne ein wenig in das Vorzeitliche verstrickt, aber keiner von uns hatte eine Ahnung, wo oder wie er suchen musste.
    Dieses Land hatte sich an die Entwicklungshilfe verkauft, und deshalb verachteten viele von uns diese Leute. Sie waren nicht wild geblieben. Sie schwitzen nicht. Sie tanzten nicht. Sie kochten keine Kräuter aus, tranken keine psychedelischen Säfte. Alles, was wir nicht verstanden, verstanden wir nur deshalb nicht, weil keiner von uns ihre Sprache verstand. Wir glaubten nicht, dass sich die Mühe des Lernens lohnte, dass diese Sprache irgendein Geheimnis bewahrte, etwas, das man verstehen musste, um hinter die Maske dieses Landes zu blicken. Nein, es waren liebe und brave Kerle, pünktlich, folgsam, ungebildet, einfach, misstrauisch, kleinkariert, sie konnten nicht tanzen, sie mochten keine lauten Feste, wenn sie tranken, dann schlossen sie sich dazu in ihre Häuser ein. Was konnten Sie sich schon zu erzählen haben. Ihre Streitereien drehten sich um Erbschaften, um den Zugang um Land, das war alles kein Geheimnis, kein Mysterium.
    Missland behauptete zwar, die Leute besäßen ein verstecktes Gesicht, ein hässliches, gewalttätiges, eines, das sie keinem zeigten, und für ihn mochte das stimmen, weil er sich oft in den unteren Zonen der Gesellschaft bewegte, trank, hurte, Geld verlieh, und es war klar, dass er mit gewissen Elementen in Kontakt kam, die uns gewöhnlichen Kooperanten verborgen blieben. Die kleinen Kriminellen, die Schnapspanscher, Huren und Geldwechsler bildeten den üblichen Bodensatz, den man überall auf der Welt finden kann. Es war das Verbrechen, das diese Leute in den Schatten zwang. Keine Tradition, keine geheimen Riten, kein verborgener Plan.
    Die Leute, mit denen wir es zu tun hatten, waren redlich, die wenigsten schienen sich viel aus Geld zu machen, und es gab auch kaum Korruption. Wofür hätten sie es auch ausgeben sollen? Ein gutes Haus in Kyovou und ein unauffälliger Wagen mit einem starken Motor, das war der ganze Luxus, den sich die Reichen leisten durften. Die Kinder wurden nach Frankreich und Belgien in Internate geschickt, nur damit sie gleich nach der Ausbildung nach Hause zurückkehrten. Es schien, als würden sie anderswo nicht glücklich. Alles, was darüber hinausging, verursachte Neid, und der war in einem Land, wo man sich gegenseitig auf den Füßen stand, wo man keinen unbeobachteten Schritt machen konnte, tödlich. Dieser Neid vergiftete die Freude am Reichtum, es machte einfach keinen Spaß, in einer Luxuskarosse durch die Gegend zu fahren, keiner tat das, nicht die Ministerialbeamten, nicht die Geschäftsleute, nicht einmal Hab. Er fuhr einen gewöhnlichen Opel, trug einfache Anzüge aus hellblauem Nanking.
    Bescheidenheit war eine gesellschaftliche Forderung, und die internationalen Geldgeber liebten sie für ihre Anspruchslosigkeit. Kaum ein Land, das mehr Gelder erhielt, die Staaten rissen sich geradezu darum, diesem armen Bergland zu helfen. In dieser Genügsamkeit und Ordnungsliebe erkannten wir Schweizer uns wieder. Der kleine Paul hielt Bescheidenheit für die allergrößte Tugend, ein Protestant bis zur Farbe seiner Unterwäsche, die ebenfalls hellblau war, weil ihm weiß zu angeberisch schien. Paul passte sich in einem Maß an, das einem Angst machen konnte. Wenn er mit den Leuten von der belgischen Botschaft sprach, übernahm er nach einigen Sätzen deren Französisch, imitierte das gequetschte, nasale Idiom, als hätte er Jahre in Brüssel verbracht. Als wir einmal eine Sägerei besuchten, unterhielt er sich nach wenigen Minuten mit den Arbeitern, die nie ihren Hügel verlassen hatten und ihn mit großer Wahrscheinlichkeit auch nie verlassen würden, als wäre er unter ihnen aufgewachsen, er scherzte mit ihnen, fachsimpelte über Bohlen und Sägeblätter, und es fehlte nur, dass er mit ihnen nach Feierabend Hirsebier getrunken hätte. Er bot jedem, den er traf, genau jenen kleinen Paul, den der am meisten mochte, und so hielten es auch die Einheimischen. Sie passten sich an, aber die Frage blieb, und das konnte auch Paul nicht sagen und auch Marianne nicht
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