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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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den Einheimischen gehörte. Wir waren Teil ihrer Geschichte, und sie waren Teil der unseren. Als Anfang der sechziger Jahre die Direktion gegründet wurde, suchte man sich ein Land aus, das unserem ähnlich war. Klein, bergig, bewohnt von schweigsamen, misstrauischen und fleißigen Bauern. Und von eleganten Langhornkühen. Im Scherz nannten wir das Land unsere Kronkolonie. Die hohen Tiere, die zu meiner Zeit in der Zentrale saßen, der Sektionschef, der Leiter der operativen Dienste, alle, die über die Politik der Direktion bestimmten, hatten ihre ersten Jahre in Kigali verbracht. Als junge Universitätsabgänger hatte sie Lumumbas Ermordung empört. Die Kongokrise politisierte sie, sie wollten dieses Land aufbauen, die demokratischen Institutionen stärken, die Wirtschaft aus den Klauen der Imperialisten lösen und den Bauern, die neunzig Prozent der Bevölkerung ausmachten, moderne Methoden der Landwirtschaft beibringen. Sie gründeten Kreditgenossenschaften, um die Abhängigkeit vom fremden Kapital zu verringern; sie bauten Ziegeleien, damit man den eigenen Ton verarbeiten konnte und das Baumaterial nicht importieren musste. Neue Bohnensorten wurden entwickelt, mit Forstprojekten bekämpfte man die Erosion. Man schickte Forstingenieure, Landwirte, Männer und Frauen, die anpacken konnten. Die Direktion sah sich nicht als Behörde, wir begriffen uns als Unternehmen. Wir verwalteten nicht, wir gründeten, legten Hand an und gestalteten, und deshalb misstrauten wir den Sesselfurzern im Außenministerium, zu dem die Direktion administrativ gehörte. Diplomaten und andere Bedenkenträger waren unsere natürlichen Feinde, und am meisten hassten wir die Politik. Für uns war sie eine Strategie des Teufels, um die Menschen von der tätigen Hilfe abzuhalten. Politiker taten nichts, sie redeten nur, und in diesem Land gab es keine Politiker. Es gab nur die Einheitspartei, in der jedes Kind durch Geburt Mitglied wurde. Es gab keine freie Presse, keine Niederlassungsfreiheit, es war eine Diktatur, aber mit einem guten, anständigen, pflichtbewussten Diktator. Wir nannten ihn nur Hab, weil sein ganzer Name zu lang und unaussprechlich war. Ein ganzer Kerl, ein
Umugabo
, beschlagen wie ein Krieger, und dabei bescheiden und aufopfernd – er drückte sich nicht vor der samstäglichen Gemeindearbeit, zu der jeder Bürger verpflichtet war. Man hatte ihm längst nachgesehen, als Generalmajor vor sechzehn Jahren den ersten Präsidenten aus dem Amt geputscht und ihn mit ein paar Dutzend seiner treuesten Anhänger umgebracht zu haben. Der neue Präsident war ein Hüne, fünfzig Jahre alt und kräftig wie ein junger Stier. Sein schüchternes Lächeln entblößte eine Zahnlücke, ein Haudegen mit einem Kindergesicht, der Seite an Seite mit einfachen Bauern Gräben aushob, Wasserrohre verlegte, Sümpfe trockenlegte. Die Entwicklungshelfer – die von den privaten Organisationen, ob christliche oder sozialistische, ebenso die von den staatlichen Agenturen der Belgier und Kanadier oder die von der Landespartnerschaft Rheinland-Pfalz –, wir alle verehrten diesen Generalmajor, der die Rüstungsausgaben klein hielt, die Korruption bekämpfte und sich nur zwei bekannte Schwächen leistete. Er sammelte chinesische Antiquitäten, und er hatte eine mächtige Frau, die im Hintergrund die Fäden zog, eine Lady Macbeth, wie man sie unter den Expats nannte, immer bedacht auf ihren Vorteil und den des Akazu, des
kleinen Hauses
, wie man ihren Clan nannte.
    Für uns selbst wäre eine Diktatur natürlich nicht in Frage gekommen, aber wir waren der festen Überzeugung, Demokratie sei ein Vorrecht städtischer Eliten. Wir hatten Schulen besucht, aber die allermeisten Bauern hier waren Analphabeten und verführbar. Freie Wahlen hätten nichts gebracht außer Chaos, Gewalt und Elend, und bevor man jemanden an der Politik teilhaben lassen konnte, musste er zuerst ein Bewusstsein entwickeln, und das ging nur, indem man seine Lebensumstände verbesserte. Wir waren Experten und wussten, dass dies hier nicht die beste aller Welten war, aber es war eben auch nicht die schlechteste, sondern höchstens die viert- oder fünftschlechteste, und das genügte uns.
    Aber da gab es noch die andere Seite. Wir genossen zwar die Annehmlichkeiten, die Ordnung, das gesunde Klima, aber gleichzeitig wünschten wir uns manchmal, wir hätten uns der Urmutter näher gefühlt, dem dunklen Ursprung, der nicht weit entfernt pulsieren musste. Wir hätten gerne öfter geschwitzt,
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