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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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wäre, hätte dies mein unabwendbares Ende bedeutet. Die Strömung trieb mich geradewegs auf das Tor zu, von einem Schild überspannt,
Stade Régional de Kigali
, und darunter erkannte ich eine winzige Lücke, einen Durchgang, keine zwei Menschen breit, vor dem die Sicherheitsleute Kuhgitter aufgepflanzt hatten. Dieses Gitter musste ich treffen, und ich konnte förmlich diesen Gedanken hören, der nicht nur durch meinen, sondern zehntausendfach durch die Köpfe der Menschen schoss und den Strom in eine einzige Richtung schob. Es war, als strömten die Verdammten auf den letzten Spalt in der sich schließenden Himmelspforte zu, und ich sah, wie Menschen rechts und links des Durchganges an die Wand gedrückt wurden, und so beängstigend still es gewesen war, so laut war das wütende Grollen, das sich aus der Menge erhob. Bis dahin habe ich nicht geahnt, wie sehr man nach Raum dürsten kann, danach verstand ich, wie es den Bauern in den Hügeln gehen musste, wie es sie in jede freie Ecke drängte. Jedes der zwölf Kinder, das eine Frau in ihrem Leben gebar, fraß nicht nur Milch und Brei und Brot, es fraß auch Land, und am eigenen Leib, an meinen Knochen, Sehnen, Knorpeln, erfuhr ich das Gesetz der physischen Ausdehnung, die Tatsache, dass nicht zwei Dinge zur gleichen Zeit am selben Ort sein können. Ich hatte plötzlich die wahnsinnige Idee, dass alle, die sich hier versammelt hatten, hinter jenem Tor aus der Welt fallen würden, in ein Schwarzes Loch, damit für die nächsten, die nachdrängten, Platz im Universum geschaffen werden konnte. Und im selben Augenblick sah ich, wie sich zehn, zwölf Gendarmen in grünen Uniformen am Durchgang zu schaffen machten, die Kuhgitter wegzogen, und ich pries sie, bis ich sah, dass sie nicht zusätzlichen Raum schafften, sondern von innen her die Tore schlossen. Ich schrie auf, und mein atemloser Schrei wurde tausendfach verstärkt, als hätte ich tausend Kehlen oder als säßen tausend Stimmen in meiner Kehle, das Ungeheuer brüllte, und die Gesichter neben mir, die bis anhin unbeteiligt geblieben waren, als wären sie dieses Gedränge gewohnt, verzerrten sich unter Schmerzen. Augen traten aus den Höhlen, aus offenen Mündern floss Speichel, Nase und Wangen wurden zusammengedrückt, einzig die Zähne blieben unbewegt. Ich fühlte die Knochen, die gegen mein Herz drückten, ich wusste nicht, waren es eigene oder fremde, und dann erfasste mich eine andere Linie und trieb mich mit einer unheimlichen Geschwindigkeit der Mauer zu, als wäre ich Teil eines menschlichen Rammbocks, der die Umfriedung schleifen wollte. Und dann, zwei, drei Sekunden später, hatte ich keinen Menschen mehr vor mir, stand direkt an der Mauer, wurde an ihr entlanggeschleift, ich schmeckte Ziegel und Mörtel und mein Blut, und kurz bevor ich endgültig das Bewusstsein verlor, verlor ich den Boden unter den Füßen. Es fühlte sich an, als wäre ich ein Fisch in einem Netz, das auf den Kutter gehievt wurde. Einen Moment lang segelte ich auf dem Wellenkamm der Menschenflut. Man riss an mir, zupfte und zerrte aus zwei Richtungen gleichzeitig, von unten, woher ich kam, von oben, wohin man mich zog. Dann ein Krachen, als risse etwas unter Spannung, ich dachte, es sei ein Knorpel, ein Gelenkband, eine ganze Gliedmaße, und ich fühlte, wie sich mein Mund mit etwas füllte, ich spuckte, und kriegte es nicht von der Zunge, worauf es schwarz wurde, und dann war Schluss, beinahe jedenfalls. Eine weiße Gestalt tauchte aus einem plötzlich aufsteigenden Nebel auf, wie eine Discoqueen aus dem Trockeneis, aber es war keine Frau, es war ein Mann, alt, in einem weiten, seltsam erstarrten Gewand, wie aus Elfenbein geschnitzt, kaum so groß wie ein Daumen, doch aus seinem Innern erhob sich eine Stimme, laut wie Donner, und zu seiner Rechten tauchten kleine schwarze Männchen auf, mit purpurnen Hütchen wie Eichelkäppchen, die mit hohen, kindergleichen Stimmen zu singen anhoben, ein Lied, das einen Unbekannten verhöhnte, einen Ungehorsamen, der nicht hatte lernen wollen, und sie sangen beinahe fröhlich, von ihrem eigenen Rhythmus begeistert. Ein zwergenhafter Gospelchor, der auf ein Zeichen der weißen Gestalt augenblicklich verstummte. Sie begann mit einer Rede, jedenfalls klang es so, denn ihre Worte waren nicht zu verstehen, sie klangen slawisch, polnisch vielleicht, aber es war nicht nötig, die Sprache zu sprechen, um das Männchen zu verstehen. Es wetterte und zeterte, es schimpfte und stampfte, es zischte wie ein
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