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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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Menge durch das muslimische Viertel, an vernagelten Fenstern und der verbarrikadierten Moschee vorbei, einst von den Libyern bezahlt. Im ganzen Land stand keine größere christliche Kirche als diese Moschee, und weil man nicht wollte, dass der Papst das islamische Gotteshaus zu Gesicht bekam, hatte die Regierung eigens für diesen Tag eine Umgehungsstraße bauen lassen. Aber der Mob kümmerte sich nicht darum und suchte sich seinen Weg des geringsten Widerstands durch das Armenviertel, bis er schließlich auf dem ansteigenden Platz vor dem Stadion ins Stocken geriet. Auch Misslands Wagen kam zum Stillstand, und wir trieben in unserer Kiste durch ein Meer aus menschlichen Leibern, der Duft von Misslands Aftershave vermischte sich mit dem Geruch nach Angstschweiß.
    Row row row your boat
, sang Missland und schlug dazu mit der Hand den Rhythmus auf das Lenkrad. Er bemühte sich, seine Angst zu verbergen, doch die Sache war längst aus dem Ruder gelaufen. Burschen kletterten auf die Motorhaube und auf das Dach, das sich unter ihrem Gewicht so weit nach unten wölbte, dass wir die Köpfe einziehen mussten. Missland drehte die Musik lauter, Phil Collins plärrte
Against all odds
und ich verfluchte mich, dass ich mich auf diesen Verrückten eingelassen hatte. Ein junger Mann, der die längste Zeit vor meinem Seitenfenster gestanden hatte, fiel plötzlich wie ein Halm, der vom Mäher geschnitten wird, und in der Sekunde, bevor die Menge nachrücken konnte, stemmte ich mich mit aller Kraft gegen die Tür. Die Menschen dahinter wurden zusammengedrückt; Missland schrie, versuchte noch, mich am Ärmel zurückzuhalten, aber ich entschlüpfte durch die Lücke, die meine Tür geschaffen hatte.
    Im selben Augenblick raubte mir der Geruch von Angst und Stress beinahe die Besinnung, und eine Ewigkeit blieb ich an den Wagen gedrückt, von einer riesigen Schraubzwinge am Ort gehalten. Und dann muss irgendwo eine Viertelmeile entfernt, am Ostrand des Platzes, sich der Fahrer eines Busses entschlossen haben, nach einer zweitägigen Fahrt seine Passagiere ins Freie zu lassen, und die vierzig, fünfzig Menschen, die zusätzlich gegen das Stadion drückten, wirkten sich mit einminütiger Verzögerung auf mich aus, und ich wurde nach links gedrängt, wo es etwas Raum zu geben schien, wenn nicht im selben Augenblick auf der gegenüberliegenden Seite der Prior des katholischen Zentrums von Kabgayi, der bis zu diesem Moment geduldig auf einer Anhöhe darauf gewartet hatte, dass endlich jemand ihm und seiner Gruppe Ordensschwestern eine Bresche schlagen und so Zugang zum Stadion verschaffen würde, die Geduld verloren hätte. Obwohl er und seine Gruppe im Gegensatz zu den allermeisten auf dem Platz Versammelten im Stadion erwartet wurden, kam er zur Einsicht, dass ihm niemand zu Hilfe kommen würde, keine Gendarmerie und keiner der Helfer in den weißgelben T-Shirts, die überall in der Stadt Ordnungsdienst leisteten. Wenn er den Papst nicht verpassen wollte, dann würde er sich selbst helfen müssen, und so hob er den rechten Arm mit dem orangen Wimpel seines Zentrums, stieß dreimal in die Trillerpfeife und schritt voran. Der Trupp setzte sich in Bewegung, dreißig weiße Hauben, winzige, tanzende Eisberge im endlosen Menschenmeer. Ich und der Pulk in der Mitte des Platzes konnten nicht ausweichen, von rechts drückten die Fußballer, nach hinten war der Weg versperrt, weil dort die Mauer des islamischen Zentrums einen festen Riegel bildete, und so blieb uns nur der Weg nach vorne Richtung Stadion. Unter dem erhöhten Druck strömten wir heftiger als zuvor dorthin, und ich hatte das Glück, in der Mitte der Hauptströmung zu treiben, wo ich weniger aufgerieben wurde als die Menschen an den Übergängen zu den trägeren Massen, wo durch die Scherkräfte Wirbel entstanden und Körper an Körpern aufliefen. Meine Beine hatten längst jeden Einfluss auf die Richtung verloren. Eine dramatische, erregende Macht hatte mich im Griff. Ich war Teil von etwas Großem, und dieses lebendige Große war gewaltig wie drei Hügel, ein atmender, keuchender, stampfender Organismus, dessen Schwanz irgendwo fünf Kilometer westlich in der Avenue de la Démocratie liegen musste, und ich war Teil des Hauptes, hier vor dem Stadion, dem kleineren der beiden in Kigali, lächerlich klein.
    Es ging jetzt so eilig vorwärts, dass meine Beine, aus Platzmangel zu Trippelschritten gezwungen, das Tempo kaum halten konnten. Falls ich ins Stolpern oder gar zu Fall gekommen
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