Hundert Tage: Roman (German Edition)
Wasserkessel auf dem Herd, und ich, an den diese Tiraden gerichtet waren, musste der Leibhaftige sein, denn nicht mit einem menschlichen Wesen sprach diese Gestalt, vielmehr mit dem Teufel. Warum hätte sie mir sonst ihr Kruzifix entgegenhalten sollen? So verschwand das Männchen, der Chor verstummte, andere, härtere Geräusche wurden hörbar, diesseitiger, und als ich meine Augen öffnete, lag ich in einem weiten Saal, Bettstatt an Bettstatt mit den Auserwählten, ein leises Wimmern lag über den Versehrten, schmerzvoll, aber nicht verzweifelt.
An einer der Wände hing tröstend die weiße Fahne mit dem roten Kreuz, und an manchen Pritschen standen Menschen, wie Baumgruppen auf einer weiten Ebene, die Köpfe zu Boden geneigt, die Hände zum Gebet verschränkt. Dann und wann zerriss ein blechernes Scheppern die Stille, und einen Augenblick später erschien am Eingang eine Prozession aus einem halben Dutzend Helferinnen. Die Vorderste zog einen Suppenwagen durch die Reihen, die Zweite schöpfte, und die Dritte reichte den Teller an einen Kranken. Die anderen drei hielten es genauso, bloß war im Kanister statt Suppe dünner Tee mit Zitrone. Manche der Versehrten waren zu schwach, um den Löffel zu halten, aber jeder wurde gespeist, und als die huldvollen Schwestern in meine Reihe kamen, erhob sich die Frau im Bett neben mir, vor Hunger ungeduldig, und beinahe wäre sie aus dem Bett gefallen, so wie ich einen Moment später tatsächlich aus dem Bett fiel, aber aus einem anderen Grund.
Jene in der Reihe, die den Tee an die Kranken reichte, war Mitte zwanzig, ihre Wangenknochen waren gesprenkelt wie die Haut eines Leoparden, und die geschwungenen Brauen glichen Bassschlüsseln. Sie lächelte, wenn sie den Kranken den Tee reichte, und ich weiß nicht, wie mir geschah, es war ein Gefühl wie jenes, wenn man kurz vor dem Einschlafen ins Bodenlose zu fallen scheint, nur dass ich tatsächlich fiel und mich auf dem Fußboden wiederfand. Sie kamen herbeigestürzt, und die beiden Suppenfrauen, kräftiger als die anderen, hoben mich zurück ins Bett. Und dann, halleluja!, reichte mir Agathe den Tee, und dabei berührten sich unsere Hände, aber meine Sinne waren zu langsam, um zu begreifen, vielleicht nickte sie mir zu, vielleicht sprach sie ein Wort, aber dann mussten sie weiter an das nächste Krankenlager.
Der kleine Paul besuchte mich noch am selben Tag, brachte die neueste Ausgabe der Jeune Afrique, dazu in kleine Stücke geschnittenes und in Apothekertüten abgepacktes Obst. Missland war der Menge unversehrt entkommen. Sie haben ein verflixtes Glück gehabt, meinte er, vor dem Stadion hat es acht Tote gegeben. Und ehrlich gesagt: Ich war erleichtert, als er mir mitteilte, dass Marianne in Kibuye sei und nicht ins Krankenhaus würde kommen können. Mein seliges Lächeln, jedes Mal, wenn Agathe an meinem Bett vorbeikam, muss ihn erstaunt haben, vielleicht dachte er, ich sei verrückt geworden. Jedenfalls machte er sich nach einer Viertelstunde aus dem Staub.
Ich hatte alle Zeit, Agathe zu bewundern. Neben ihrem Tee-Dienst hatte sie eine zweite Aufgabe: Sie verteilte frische Nachthemden, und ich hatte nie eine größere Fürsorge gesehen, kein milderes Lächeln, keine tiefere Demut. Sie schien vollkommen in ihrer Arbeit aufzugehen, wechselte Verbände und sprach den Verletzten Trost zu.
Wenn ich alleine war, bedankte ich mich, bei wem, konnte ich nicht sagen, aber ich war glücklich, etwas wiedergefunden zu haben, das ich schon verloren glaubte. Und es fühlte sich an wie Liebe. Liebe für diese sanfte Frau, für dieses Land mit seinen demutsvollen Menschen, Liebe für die Möglichkeit, einer guten Sache zu dienen. Ich fühlte mich heiter wie zu Beginn eines neuen Schuljahres, wenn die frischen Hefte verteilt wurden und man sich vornahm, sich von nun an anzustrengen, auf der Linie zu schreiben, die Hausaufgaben zu machen, und es ist nicht der Schulstoff, auf den man sich freut, sondern die prinzipielle Möglichkeit eines Neubeginns. Die Uhren wurden wieder auf null gestellt, und die saubere Heftführung sollte nur das Zeichen sein, an dem die anderen die eigene Verwandlung erkennen konnten. Auf meinem Krankenlager dachte ich nicht daran, nach wie kurzer Zeit ich in die gewohnte Nachlässigkeit zurückgefallen war, vergaß die Tintenflecke, die losen Blätter, die versäumten Aufgaben. Ich wollte jetzt einfach hier sein, in Kigali, ich wollte so tüchtig sein wie diese Frau, aufopferungsvoll, mit einer Aufgabe. Ich wollte
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