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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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ein Kooperant werden, nichts anderes.
    Meine Verletzungen waren nicht ernst, und schneller als mir lieb war wurde ich aus dem Lazarett entlassen. Als ich am Montag darauf in der Botschaft erschien, ließ mich die Koordinatorin wissen, dass meine Missachtung der internen Weisung unentschuldbar sei und ich nur noch bis Ende des Monats in Kigali bleiben solle und danach in die Zentrale versetzt werde.
    Ich hatte mich immer vor dieser Frau gefürchtet, vor ihrer Massigkeit, ihrer Verbitterung, die von den Schmerzen rührten, die ihr das kranke Hüftgelenk bereitete. Sie ging an einer Krücke, die bei jedem Schritt knarrte wie ein morscher Schiffsmast, und das war der Grund, weshalb sie das altertümliche Ding aus dem örtlichen Sanitätslager jeden Morgen bei Arbeitsbeginn in den Schirmständer stellte und den Tag über dort ließ. Ohne Krücke war die Koordinatorin zu einem festen Rundgang gezwungen, auf dem sie sich durch den ersten Stock bewegte. Von ihrem Büro, zuhinterst auf der Etage, mit Blick auf die angrenzenden Gärten, hangelte sich Marianne zum Aktenschrank, dessen mittlere Schublade stets geöffnet war, damit sie sich darauf abstützen konnte. Von dort ging es zur Pflanzentreppe, die als Sichtschutz hinter meinem Schreibtisch stand und ihre nächste Krücke bildete, bis sie endlich die Fensterbank erreichte, die über die gesamte Länge des Korridors führte. Um ihren Arm zu verlängern, stützte sie sich auf die letzten Fingerglieder, so wie Menschenaffen gehen, auf den blanken Knöcheln. Sie hätte sich längst einer Operation unterziehen, sich ein künstliches Hüftgelenk einsetzen lassen müssen, aber nach und nach ging mir auf, weshalb Marianne den Eingriff immer wieder verschob. Sie hätte dazu in die Schweiz reisen müssen. Viele Mitarbeiter der Direktion reisten nur nach Hause, wenn es unvermeidbar war, einfach weil sie sich vor der Einsicht fürchteten, ihre alte Heimat verloren zu haben und dort, wo sie einmal zu Hause gewesen waren, nur noch Gast zu sein. Die Briefe an die alten Freunde, die wöchentlichen Telefongespräche reichten nicht, um die frühere Nähe zu bewahren, und allmählich verlor man sich ganz aus den Augen. Marianne war unverheiratet, und seit ihre Eltern gestorben waren, hatte sie keinen Grund mehr, das Geburtsland zu besuchen. Sie ließ den Weihnachtsurlaub aus, der über Jahre ein fester Bestandteil ihres Kalenders gewesen war, versäumte die gesellschaftlichen Pflichttermine, entschuldigte sich bei der Heirat einer Nichte, verpasste das Begräbnis eines Onkels, und mittlerweile war die Heimat zu einem einzigen großen Schuldgefühl geworden: eine böse Erinnerung, der sie auswich und die sie so gut wie möglich verdrängte. Deshalb ertrug sie ihre Behinderung, die Schmerzen, die von Monat zu Monat schlimmer wurden, aber ihre Krankheit, die körperliche und die seelische, wenn man sie denn so bezeichnen will, machte aus ihr eine der tüchtigsten Koordinatorinnen der Direktion. Sie hatte nichts anderes als ihre Arbeit, keine Familie, nicht einmal einen Ehemann. Ihr ganzer Lebensinhalt waren die Projekte, ihre Familie, die Mitarbeiter in Kigali, aber sie vermied es tunlichst, tiefere Freundschaften einzugehen. Wir waren nur auf Zeit hier, und starke Bindungen waren hinderlich und mussten eines Tages unter Schmerzen getrennt werden.
    Marianne verlangte keine Erklärung, weshalb ich mich über die Weisung hinweggesetzt hatte. Sie interessierte sich nicht mehr für mich, und als ich sie um eine zweite Chance bat, schaute sie mich nur erstaunt an. Es gehe hier nicht um meine, sondern um die Entwicklung dieses Landes, meinte sie. Ihretwegen könne ich nackt durch die Akagera rennen, es würde sie nicht kümmern. Worum sie sich sorgte, das waren nur die Leute draußen in den Projekten. Die sich den Arsch aufrissen, damit ein paar Leute ein besseres Leben führen konnten. Und um die Einheimischen sorgte sie sich, die an dreihundert Tagen im Jahr vor ihren Häusern saßen und nicht wussten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Ihr war egal, was jemand mit seinem Leben anfing, solange er nur eine Wahl besaß. Ich hatte die Wahl besessen und mich gegen die Direktion entschieden.
    Ich widersprach nicht, weil ich fürchtete, Marianne könnte recht haben. Wie konnte ich sicher sein, dass es mir diesmal nicht um meine Eitelkeit ging, um mein eigenes, egoistisches Bedürfnis, um meine durcheinandergeratenen Gefühle? Ich misstraute mir, meinen Beweggründen. Vielleicht wollte ich bloß in
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