Hundert Tage: Roman (German Edition)
Kigali bleiben, um Agathe nahe zu sein.
Ich hätte etwas sagen, Marianne von meiner Umkehr überzeugen müssen, aber alles, was ich in den nächsten Tagen vermochte, war, pünktlich in der Direktion zu erscheinen und meinen Dienst ordentlich zu erledigen, Missland zu meiden und zu hoffen, sie werde meine Wandlung erkennen und den Verweis noch einmal überdenken.
Sie stand da, wartete auf dem Bürgersteig, als ich wie ein geschlagener Hund aus der Direktion trat. Ich hätte sie beinahe nicht wiedererkannt. Agathe glich nun nicht mehr dem Engel aus dem Lazarett, sie hatte sich zurück in die Dame vom Flughafen verwandelt, schnippisch, kühl – etwas, das ich in den folgenden Jahren nie begreifen sollte. Es gab nicht eine Agathe, es gab mindestens ein halbes Dutzend, und wenn ich eine zu fassen kriegte, dann nahm sie auch schon wieder eine andere Form an. Ich konnte ihre Mimik nicht lesen und auch nicht den Tonfall ihrer Stimme; ich sah, sie lachte, aber ihre Worte klangen hart, und oft, wenn sie eine komische Geschichte erzählte, wirkte sie traurig.
Sie wollte sehen, wie es ihrem Patienten ging, und lud mich in die Imbissbude des Pakistani ein, am großen Rond Point. Wir bestellten Beignets, tranken eine Cola und unterhielten uns über all die Dinge, die uns in Kigali fehlten. Sie sehnte sich nach ihrem Leben in Brüssel, nach ihren Freunden, was mir einen Stich versetzte, aber ich wagte nicht zu fragen, ob es dort einen Mann gab, für den sie besondere Gefühle empfand. Für sie war der Aufenthalt in Kigali verlorene Zeit, und sie wollte so schnell wie möglich zurück nach Brüssel.
Sie beklagte sich über ihre Cousins, junge Burschen aus dem Norden, von wo ihre Eltern ursprünglich stammten. Sie lungerten bei ihnen im Haus herum, waren aufdringlich und jeder von ihnen war überzeugt, Agathe würde gerade ihn heiraten. Aber das war ausgeschlossen, sie würde mit Sicherheit keinen Ndindiliyimana heiraten. Agathe hasste ihren Familiennamen, wie ihre Muttersprache überhaupt, ein für Ausländer kaum erlernbares Bantuidiom, reich an seltsamen Redensarten.
Der Hals ist der Deckel des Kummers. Nicht der Schmerz tötet, sondern die Erinnerung. Wo die Frau befiehlt, befiehlt der Knüppel. Wer seinen Feind mit einer Kuh entschädigt, der verliert die ganze Herde
. Ich mochte diese Weisheiten, aber Agathe verzog das Gesicht. Für sie war es eine Sprache von Hinterwäldlern, ohne Poesie, bloß gemacht, um Gerüchte und Aberglauben zu verbreiten und hin und wieder eine Kuh zu verkaufen. Und natürlich, fügte sie spitz hinzu, um ein paar Geheimnisse vor den Abazungu zu bewahren.
Ich weiß noch, dass an jenem Nachmittag der Verkehr auf dem Rond Point zusammenbrach, weil ein Ochsenfuhrwerk seine Ladung verloren hatte, enorme Ballen alter Kleider, die wie riesige Käfer auf der Fahrbahn lagen und die Fahrer zu halsbrecherischen Manövern zwangen.
Tatsächlich verstand keiner in der Direktion die Sprache, selbst die Diplomaten nicht, bloß Ordensleute, die seit Jahrzehnten im Land lebten, lernten sie ansatzweise, und wenn sich auch die Zunge allmählich an die unendlichen Konsonantenreihen gewöhnte, so beherrschten die Stimmbänder doch niemals die richtige Tonhöhe, mit der man zwei identisch geschriebene Worte wie etwa Ekel und Hut voneinander unterschied. Agathe wollte einen anderen Familiennamen, einen einfachen, klaren, wie Blanc oder Dupuis, und sie würde die Gelegenheit, durch eine Heirat an einen europäischen Namen zu kommen, bestimmt nicht ungenutzt lassen. Wenn nur ihr Vater nicht gewesen wäre. Er wollte sie mit einem der unausstehlichen Cousins verheiraten und ihr bestenfalls freundlicherweise die Wahl lassen zwischen einem Hinterwälder, der nie weiter als bis Kigali gekommen war, und einem, der zwar Bücher las, aber aussah wie eine Kröte. Hauptsache, er gehörte zur Familie. Er hatte darauf bestanden, dass Agathe die Semesterferien in Kigali verbringe, und jetzt ließ er sie nicht zurück nach Brüssel reisen. Sie sollte hier weiterstudieren. Sie war nach Butare gefahren, um sich die Uni anzusehen, und dabei war sie im Ibis abgestiegen. Ich erzählte ihr nichts von Goldmann, nichts von ihrem Schirm, nicht einmal, dass wir überhaupt dort gewesen waren. Butare kam für sie überhaupt nicht in Frage, denn sie wusste, was geschähe, wenn sie erst einmal ja dazu gesagt hätte. Und deshalb musste sie so schnell wie möglich aus Kigali verschwinden – sie sagte Kiga-ri, mit einem Gaumen-R, der einzige Hinweis
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