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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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auf ihre Muttersprache, die nicht zwischen L und R unterschied. Sie bemühte sich um ein reines, von allen Akzenten gesäubertes Französisch, nur die liquiden Artikulationslaute blieben unbeherrschbar und verrieten ihre Herkunft.
    Auf dem Rond Point versuchte der Fahrer gerade, die Ballen zurück auf das Fuhrwerk zu laden, aber sie waren zu schwer für den dürren Mann, und keiner der Hupenden war bereit, aus seinem Wagen zu steigen und zu helfen.
    Ich war so dumm, sie zu fragen, ob ihr Vater denn nicht ihr Glück wolle. Er sei gewiss kein Unmensch, meinte sie, aber seine Karriere habe er seiner Familie zu verdanken, die aus derselben Präfektur wie Präsident Hab stammte. Wäre er ein Mann mit denselben Fähigkeiten, aber aus dem Süden, er würde irgendwo Formulare stempeln. Agathe war seine einzige Tochter, die einzige Möglichkeit, die familiären Beziehungen zu festigen, was jetzt besonders wichtig war, stand er doch davor, zum Bürochef im Ministerium für Information ernannt zu werden. Sein vorgesetzter Minister hatte das stets verhindert und Agathes Vater einen Mann vorgezogen, der selbst mit dem Minister verschwägert war – doch nun hatte er sich selbst um den Posten gebracht, mit seiner Rede, die er beim Papstbesuch im Stade Régional gehalten hatte und die hohe Wellen schlug, bis in die Spalten der internationalen Presse. Heiliger Vater, hatte der Minister begonnen, Sie haben von Aids gesprochen und davon, dass sich die Liebe in der Ehe verwirklicht. Aber was soll ich einem Ehepaar sagen, draußen auf den Hügeln, das ein Kind ums andere bekommt, jedes gespenstisch anzusehen, hohläugig, krank von der ersten Stunde an, verdammt, den Hungertod zu sterben? Was soll ich ihnen sagen, Heiliger Vater, wenn sie mich fragen, was sie mit der Liebe tun sollen? Und was soll ich dem jungen Mann sagen, der zu ewiger Untätigkeit und zu Arbeitslosigkeit verdammt ist und der keine Ahnung hat, wie er seine Triebe kontrollieren kann, den aber die Gesetze der Kirche und der Gesellschaft zur Keuschheit zwingen, die er unmöglich leben kann? Und meine letzte Frage, Heiliger Vater, ist, was ich den viertausend Aidswaisen in Kigali antworten soll, wenn sie wissen wollen, warum ihre Eltern gestorben sind? Wie soll ich sie trösten, wenn ich doch ins Himmelreich kommen und dazu die katholische Moral leben will, die mir nur wie die Zementierung der weißen Vorherrschaft erscheint?
    So hatte dieser Mann gesprochen, und über dem Stadion hatte eine eisige Stille gelegen, bevor der Papst noch einmal seine Haltung erklärt hatte. Kein Sex vor der Ehe. Keine Empfängnisverhütung.
    Ein mutiger Mann, könnte man meinen. Offene Worte war man in dieser Frage nicht gewohnt. Doch das Einzige, was der Minister damit erreichte, war seine eigene Absetzung. Die Kirche war mächtig, und die Regierung wartete bloß, bis die Abazungu diesen Anfall der freien Meinungsäußerung vergessen hatten. Dann wurde der Minister abgesägt. Sein Nachfolger war ein Geschichtsprofessor aus Butare, ein loyaler Mann, und vor allem mit der Mutter Agathes verschwägert. Sein Bruder war der Mann ihrer Schwester, die widerlichen Cousins seine Neffen, und Agathes Heirat würde das Gegengeschenk für Vaters Beförderung sein.
    Sie liebe ihren Vater, aber sie hasse dieses Land, meinte sie, die Kungeleien, die Vetternwirtschaft, die der wahre Grund für die Unterentwicklung seien. Deswegen funktioniere selbst der Verkehr nicht und deshalb müsse bei einem Unfall eine halbe Armee anrücken. Und tatsächlich fuhren jetzt auf dem Kreisverkehr Mannschaftswagen auf, und Soldaten in Uniform sprangen von den Bänken auf die Straße. Zwei packten sich den Fuhrmann, prügelten ihn von der Straße, vier andere zogen die Ochsen weg, und der Rest kümmerte sich um die Kleiderballen, hievte sie auf die Armeelaster.
    Natürlich war ich enttäuscht. Enttäuscht, dass Agathe doch bloß eine verwöhnte Göre war, eine Tochter aus gutem Hause, so wie ich sie auf dem Flughafen eingeschätzt hatte, aber ich glaubte, in der Frau, die sich im Lazarett um die Kranken gekümmert hatte, ihr wahres Wesen erkannt zu haben, und diese demütige, aufopferungsvolle Person hatte mich berührt, nicht das vorlaute Mädchen, das mir gegenübersaß und missmutig an seinem Strohhalm zog. Ich versuchte, sie von ihrem eigenen Land zu überzeugen, von den Aufgaben, die es hier für gut ausgebildete Menschen gebe, und ich verschwieg ihr, dass man mich gerade wegen einer Disziplinlosigkeit von meinem Posten

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