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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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ganz getötet. Einen Moment erwog ich, Théoneste den Vogel zu überlassen oder dem Tier selbst den Hals umzudrehen, aber als ich den Jungen ansah, meinte ich in seinen Augen eine Mordlust zu erkennen, eine Freude am Elend dieser Kreatur, denselben auffordernden, machtvollen Blick, den ich auch in Agathes Augen erkannt hatte, und was immer ich auch für das Leben dieses Tieres tun musste, ich würde es auf mich nehmen, und es war mir egal, wenn sein Leiden verlängert wurde und ein schneller Tod gnädiger gewesen wäre. Ich wollte ihnen zeigen, wie kostbar das Leben war, jedes Leben. Sie sollten sehen, was sie mit ein paar Streichen angerichtet hatten. Und wenn Théoneste auch zu alt war, um diese Lektion zu begreifen, so gab es immer noch den Jungen, dem ich ein Vorbild sein konnte. Ich weiß natürlich, wie vermessen es war, aber indem ich dieses Kind Respekt vor der Kreatur lehrte, würde ich meinen Teil dazu beitragen, der Gewalt ein Ende zu bereiten. Ich musste da beginnen, wo ich Einfluss hatte, und wo anders als in meinem Garten, in meinem Haus hatte ich die Möglichkeit, die Dinge zum Besseren zu wenden? Gewissensbisse nagten an mir, weil ich am Vortag nicht früh genug eingeschritten war, und ich war dankbar, nun wenigstens einen Teil davon wiedergutmachen zu können.
    Auf dem Markt besorgte ich einen Hühnerkäfig, Rinderknochen und Ziegenleber, die ich mit einem rohen Ei vermischte, wie ich es von meinem Vater gelernt hatte, als wir die elternlosen Drosseln aufzogen. Drei der vier Piepmätze, die wir aus dem verwaisten Gelege gerettet hatten, waren uns unter den Händen weggestorben. Ich wusste also, wie unsicher der Erfolg war. Es heißt zwar, jemand esse so wenig wie ein Vögelchen, aber in Wahrheit sind sie wahre Fressmaschinen, und sie überstehen kaum zwei Tage ohne Nahrung, dann sterben sie den Hungertod. Ich verstand deshalb, was es bedeutete, dass der Vogel den Brei nicht anrührte, und weil ich nichts für ihn tun konnte, außer ihn in Freiheit sterben zu lassen, gab ich ihn frei. Er blieb im Garten, die Mauer konnte er mit seinem Flügel nicht überwinden. Er ließ sich mit dem Sterben Zeit, schrie in den Nächten die Nachbarschaft zusammen, und ich wünschte nur, er würde verhungern, bevor ich ihm den Gnadentod geben musste.
    Agathe hatte nichts für den Vogel übrig. Was hast du eigentlich mit ihm vor, fragte sie mich einmal, als wir mitten in der Nacht von seinem Schreien aus dem Schlaf gerissen wurden. Wahrscheinlich wird er bald sterben, sagte ich und hoffte, sie würde die Schreie bis dahin ertragen, aber sie verzog verächtlich den Mund und verlangte, ich solle hinausgehen und auf der Stelle den Bussard töten. Ich erklärte ihr, dass dies vollkommen ausgeschlossen sei, ich hätte ihm einen Namen gegeben, Shakatak, und sie nannte mich einen Feigling, aber das traf mich nicht. Bei der nächsten Runde bellender Schreie stand Agathe auf und zog sich an. Wenn du zu feige bist, das Viech zum Schweigen zu bringen – ich bin es nicht. Ich erschrak und hielt sie zurück. Gewiss hatte ich den Vogel nicht aus den Händen des Gärtners gerettet, um ihn nun von meiner Geliebten erschlagen zu lassen.
    Agathe zog sich wieder aus, setzte ihren Hintern auf mein Kopfkissen, etwas, das ich nicht leiden konnte, und um mich weiter zu ärgern, zündete sie sich eine Zigarette an und benutzte mein Wasserglas als Aschenbecher. Ich bat sie, das Rauchen zu lassen, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie machte sich lustig über meine Sentimentalität, wie sie es nannte, ein Begriff, den ich niemals in diesem Zusammenhang verwendet hätte. Du hast zu viele Ritterromane gelesen, sagte sie. Das hier ist aber kein Falke, es ist ein Bussard, er lässt sich nicht abrichten, aber ich sah nicht ein, welchen Unterschied das machte. Wir hatten längst das Licht angedreht und befanden uns mitten in einer Diskussion, die über kurz oder lang in einem Streit enden würde. Du schlägst schließlich auch Mücken und Fliegen tot, stichelte sie, und ich sehe nicht, warum wir nicht dasselbe mit diesem Viech machen sollten. Bloß weil der Bussard Federn und keine Facettenaugen hat?
    Da saß wieder die andere Frau, nicht die Agathe, die in Brüssel studierte, dieselbe Musik mochte wie ich und abgesehen von ihrer Hautfarbe mir ziemlich ähnlich war. Jetzt gehörte sie einer anderen Kultur an, ich sah die Nachfahrin von afrikanischen Bauern, die in einem ewigen Kampf mit der Natur stehen, unfähig, weiter als bis zur nächsten

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