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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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wir müssten den gewöhnlichen Menschen Vorbilder sein, zuversichtlich und unverzagt, denn wir wussten natürlich, dass der Friede ein zartes Pflänzchen war. Die Morde und Massaker deuteten wir als letzte Funken eines erlöschenden Feuers. Und so fuhren wir an den Wochenenden wieder an den Kivu oder auf Fotosafari in die Akagera, zählten Gnus und lachten über Warzenschweine.
    Wenn man in einer Gruppe von, sagen wir, sechs bis acht Abazungu war, fand sich darunter fast immer jemand, der gerade aus den Virungas zurückgekehrt war. Die wenigsten, die ich getroffen habe, sprachen von sich aus über die Gorillas, was erstaunlich war, die Abenteuer, die man auf den anderen Exkursionen erlebte, teilte jeder bereitwillig. Einen Eingeweihten, der gerade die Bergregenwälder besucht hatte, erkannte man trotzdem auf den ersten Blick am seligen Lächeln, den glänzenden Augen, einer allgemeinen Wendung nach innen, und nur wenn man sanft nachstieß, offenbarten sie sich vielleicht. Ja, ich habe sie gesehen, murmelten sie entrückt, aber das ist nicht wichtig. Was ist denn wichtig, stieß man vielleicht nach, und dann erntete man einen Blick, in dem die Verachtung und das Mitleid zu erkennen waren, weil man selbst zu den Ungeweihten gehörte. Sie haben
mich
gesehen, antworteten sie, ins Innerste meiner Seele haben sie geschaut. Und falls man nachstieß, was die Affen denn dort gesehen hätten, dann verstummten sie endgültig und waren nicht bereit, ihr kostbares Erlebnis zu teilen; sie meinten, man solle selbst nach Ruhengeri fahren, die viereinhalbtausend Francs bezahlen und hinauf in die Hänge der Vulkane steigen.
    Die Gorillas waren die Könige dieses Landes, die spirituellen Führer, so etwas wie der Nullmeridian, die Koordinate, auf die sich alle bezogen. Dian Fosseys Buch war Pflichtlektüre, und spätestens nach ihrem gewaltsamen Tod, erschlagen von Wilderern, galt sie als Heilige, als Märtyrerin des Ordens gorilla beringei, des langhaarigen Berggorillas des Ostens,
Ingagi
in der Landessprache, mächtigster aller Menschenaffen, ein Endemit der zentralafrikanischen Vulkane, menschenähnlicher Bewohner des Bambusgürtels, reiner Vegetarier, organisiert in Sippen unter Führung eines alten Männchens, des Silberrückens, weitgehend frei von Aggressivität, bedroht durch Wilderei und Brandrodungen. Man schätzte den Bestand auf wenige hundert Individuen, und ich vermute, die meisten der Eingeweihten hätten jeden einzelnen Gorilla ohne zu zögern gegen zehn, hundert, sogar tausend Menschenleben eingetauscht. Arme, zerlumpte Analphabeten gab es überall auf der Welt, aber Berggorillas lebten nur hier in den Virungas.
    Sie scheißen sich was auf die Primaten, sagte Missland, als wir durch die letzten Pyrethumfelder dem Nebelwald entgegenstiegen, sie machen sich lustig über unsere Affenliebe, und wenn ich ein Bauer wäre, ein Mensch in diesem Dreck hier, ich würde die Affen auch hassen. Die ganze Welt fährt in diese abgelegenste Region Ostafrikas, nur um die pelzigen Brüder zu beglotzen, reiche Amerikaner, tierbewegte Europäerinnen, Filmteams, Forscher, und keiner von ihnen hat auch nur einen Blick für die Bauern übrig. Dass er auch zu diesen Leuten gehörte, schien ihn nicht zu beunruhigen. Die Lebenserwartung der Gorillas sei übrigens deutlich höher als die der hier lebenden Menschen. Und das sei kein Wunder. Vom Geld aus dem Tourismus sahen die Leute hier gar nichts. Keine Schulen, keine Krankenhäuser, die ganzen Devisen blieben in Kigali. Die Affen allerdings wurden gehätschelt wie Babys. Wer einen Schnupfen hatte, durfte nicht mit, aus Angst, die Gorillas anzustecken. Besuchszeit war von elf bis halb zwölf mittags, das war die einzige Zeit des Tages, in der sie nicht fraßen. Leise sprechen. Nicht rauchen, essen, nicht trinken. Wer sich erleichtern musste, hatte vorher ein dreißig Zentimeter tiefes Loch zu graben.
    Wir kamen an den letzten Siedlungen vorbei. Dort herrschte eine Atmosphäre wie auf einer unserer Alpen zu Ende des Sommers, kühl, windig, ungastlich. Wir waren nun schon zweitausend Meter über dem Meer. Bewaffnete Ranger begleiteten uns, die Gewehre, so meinten sie, dienten der Abwehr von Büffeln, die manchmal nicht wegliefen, sondern sich für den Angriff entschieden. Die Bauern, die am Wegrand stehen blieben, beäugten uns misstrauisch, und ich war froh, als wir schließlich die letzten Terrassen hinter uns gelassen hatten und der Nebelwald uns verschluckte, aber bald wurden wir von anderen

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