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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Reden aus klirrenden Lautsprechern, betrunken, schwitzend, zornig, in einem fremden Idiom Sprechchöre skandierend, die ich nicht verstand, aber die ganz gewiss nicht zum Frieden aufriefen. Transparente forderten das Ende der Sklaverei, Knechtschaft, Uneinigkeit. Lang lebe die Republik! Nieder mit der Monarchie! Nein zum Feudalismus! Nein zu
kalinga
! Manche trugen Speere, und dann wurden auf der Bühne Lieder angestimmt, und hinterher gab es Fleisch vom Grill und warmes Bier, es war aufregender als jedes Rockkonzert, denn hier ging es um Leben und Tod. Sie schauten mich an, misstrauisch, verschlagen, ich wusste: nur ein falsches Wort, und man wäre des Todes, ich wäre des Todes, ein Höllenspektakel, ein brodelnder Kessel aus Angst, Wut und Alkohol.
    Wer es nicht erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, wie tief die Lust reicht, wie erlösend der Sex ist nach einer solchen Veranstaltung, wie wunderbar heilend, wie besänftigend, tröstend, wie groß die Kraft eines Orgasmus ist, alle Widersprüche und Zweifel während einiger Sekunden aufzuheben. Die Widersprüche hier unendlich groß, die Schlechtigkeit und Gewalt so offensichtlich, und Agathe fasste meinen Schwanz an, und dann war alles aufgehoben. Es sind Kakerlaken, David, und eine Kakerlake kann keinen Schmetterling gebären, und ich fasste ihr an den Hintern. Ein Tutsi bleibt ein Tutsi, fuhr sie fort, und ich zog ihr den Slip aus. Sie haben sich nie geändert – da fiel ihr Kleid. Es gibt keinen Unterschied zwischen den Kakerlaken, die uns jetzt angreifen, und den Kakerlaken, die uns über Jahrhunderte unterdrückt haben, und ich schob meinen Kopf in ihren Schoß. Damals wie jetzt morden, vergewaltigen, plündern sie, und erst da schwieg sie endlich.
    Niemals war der Sex besser, verdorbener, ausschweifender, niemals
schweinischer
gewesen als in jener Nacht nach dieser Veranstaltung, und das lag nicht an Agathe, sondern allein an mir. Ich habe nicht von ihr lassen können, die ganze Nacht habe ich immer mehr gewollt, und als ich am Morgen danach erwachte und entdeckte, dass sie schon weg war, auf dem Weg in die Messe, da fühlte sich mein Kopf an wie nach einem Saufgelage. Ich hatte keine Ahnung, was in der Nacht zuvor in mich gefahren, woher meine plötzliche Raserei gekommen war. Ich dachte den ganzen Tag nur an Agathe, jedenfalls glaubte ich das, bis ich entdeckte, an was ich tatsächlich dachte, nicht alleine an ihren Körper, sondern an ihren wunderschönen Mund, dem unsagbar herzlose Worte entsprungen waren, an ihren wohlgeformten Kopf, der gefüllt war mit paranoiden, kriegerischen, mörderischen Gedanken. Ich ahnte, dass ihre Einstellung und der Höllenfick von letzter Nacht irgendwie zusammenhingen, und ich fragte mich, ob ich ein Perverser sei, und am nächsten Samstag bekam ich die Bestätigung. Oder jedenfalls erfuhr ich an jenem Tag, dass Sex weniger mit Liebe und Harmonie zu tun hat, vielmehr mit Kampf und Unterwerfung. Sie erschien überraschend in Haus Amsar, es war noch Vormittag, und ich wollte sie zuerst nicht hereinlassen, weil Erneste noch im Haus war und sauber machte. Ich fürchtete, sie könnten aneinandergeraten. Aber Agathe ließ sich nicht abwimmeln, sie ahnte den Grund für meine Reserviertheit, ließ sich jedoch zuerst nichts anmerken, bis sie sich in der Küche ein Glas Milch eingoss, nur um es im nächsten Augenblick auf den gefliesten Boden fallen zu lassen, wo es in tausend Stücke zersprang. Statt sich für das Missgeschick zu entschuldigen, herrschte sie die Haushälterin an, zwang sie, die Schweinerei aufzuwischen. Und Erneste gehorchte stumm, ließ sich nichts anmerken, während Agathe danebenstand und sie beschimpfte, meinte, jetzt sei die Kakerlake dort, wo sie hingehöre, auf dem Boden nämlich. Erneste ließ alles über sich ergehen, wischte auf, und ich habe danebengestanden und mit Schrecken festgestellt, wie sich in meiner Hose etwas rührte, während sich plötzlich die Milch rosa zu färben begann. Erneste hatte sich an einer Scherbe verletzt, was Agathe nicht besänftigte, sondern im Gegenteil nur noch rasender machte, und ich begehrte Agathe nie so sehr wie in diesem Augenblick. Sie beugte sich über die bemitleidenswerte Erneste, Speichel spritzte aus ihrem fluchenden Mund, sie war erfüllt von Abscheu, von Hass, von Zorn, und ich musste mich von diesem Anblick förmlich losreißen, mich innerlich anschreien, endlich einzuschreiten. Ich schickte Erneste ins Badezimmer, damit sie ihre Wunde versorgen konnte, und

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