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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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ich selber habe die restlichen Scherben aufgewischt. Agathe sah mich provozierend an, in ihrem Gesicht ein Ausdruck des Triumphes, vermischt mit Spott und Hohn. Ich habe sie gemaßregelt, ihr ruhig und sachlich zu erklären versucht, dass ich so etwas nie wieder sehen wolle, habe ihr erklärt, in Haus Amsar seien alle Menschen gleich, und so weiter, die Charta der Menschenrechte habe ich rezitiert, dann erschien Erneste mit einem Verband um die Hand, und kaum hatte ich sie nach Hause geschickt, fielen wir übereinander her, trieben es wie zwei hungrige Tiere, kurz nur, atemlos und wie von Sinnen, und nach einer Viertelstunde saß ich mit offener Hose auf meinem Sofa, allein, weil sie sich unmittelbar danach in aller Ruhe angezogen und das Haus verlassen hatte. Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß, ich weiß nur, dass es draußen dunkel wurde, bis ich mit zittrigen Knien aufstand und mich unter die heiße Dusche stellte, endlos lange, bis das Badezimmer mit Wasserdampf gefüllt war, und noch länger, bis der Boiler schließlich leer war und nur noch kaltes Wasser aus der Brause kam. Ich hatte das Gefühl, Ernestes Blut klebe an meinem Körper, ich schämte mich, wusste nicht, wie ich meiner Haushälterin jemals wieder gegenübertreten sollte, und ich wusste nicht, wie es kommen konnte, dass ich diese kleine, bornierte, verschlagene, sadistische Rassistin begehrte. Irgendwann habe ich mich schlafen gelegt, und als ich das nächste Mal erwachte, hörte ich Lärm aus dem Garten, die Stimme Théonestes, der seinen Neffen mitgebracht hatte, wie er das sonntags manchmal tat, damit der ihm zur Hand gehen konnte. Als ich in den Garten trat, tanzten Daunen um ihre Köpfe, ich dachte, sie schüttelten Kissen aus, aber seltsam war, dass sie mit Bambusstöcken auf die Pfulmen einschlugen, und ich, schlaftrunken, trat näher, sah, wie sich zu ihren Füßen etwas regte, hörte dann ein Bellen und dachte, sie hätten einen Schabrackenschakal erwischt. Schakale gingen auf die Hühner, deshalb verfolgte man die Räuber bis aufs Blut. In Kyovou, diesem Viertel der Reichen, gab es keine Geflügelställe; die Schakale interessierten sich für den Abfall der reichen Leute, der immer einen Happen versprach. Die Federn wurden mehr, wirbelten umher, ich rief den beiden etwas zu, sie hörten nicht, ich klatschte in die Hände, schrie, die beiden drehten sich um, schauten mich an, und da sah ich ihn. Es war kein Schakal, ein Bussard hatte sich vor den Schlägen in eine Mauernische geflüchtet, und als die Hiebe einen Moment aussetzten, tauchte er unter den Männern weg und versuchte aufzusteigen. Er kam bis auf Théonestes Schulterhöhe, dann säbelte ihn der Junge mit einem einzigen Streich aus der Luft. Der Vogel fiel plump zu Boden, ließ wieder diesen unvogelhaften Schrei hören. Das Erlebnis vom Vorabend stieg wieder in mir hoch, und ich schrie die beiden jetzt an, und ich schrie laut, die beiden schreckten zusammen und traten vom Vogel weg. Ein junges Tier, mit sandfarbenem Bauch und dunklen Armdecken.
    Bei Tagesanbruch konnte man die Bussarde über Kigali sehen, wie sie regungslos in der Thermik aufstiegen und nach Beute Ausschau hielten. Bussarde leben und jagen einsam; alles, was ihnen das Überleben sichert, sind ihre übersteigerten Sinne. Augen, die aus hundert Metern im hohen Gras eine Heuschrecke ausmachen. Sie bringen Unglück, so glaubten die Leute; alles, das wild ist und ungezähmt, keine Eier legt und sich nicht melken lässt, brachte in ihren Augen Unglück, und das Beste war, wenn man dieses Unglück verspeiste. Die Märkte in Cyangugu an der Grenze zum Kongo wurden täglich mit Tonnen von Wildfleisch beliefert, Duckerantilopen, Bärenpaviane, Diademaffen, am liebsten geräuchert. Bussarde aßen sie nicht, es waren für sie Ratten der Lüfte, ohne wirtschaftlichen Nutzen, Nahrungskonkurrenten.
    Ich schickte den Gärtner nach einem Drahtkorb, mit dem er gewöhnlich das gemähte Gras sammelte. Der Vogel machte meterhohe Sprünge, versuchte, Luft unter seine Schwingen zu bringen, aber es gelang ihm nicht. Wir hatten alle Mühe, den verletzten Vogel unter den umgedrehten Korb zu sperren, das Tier hackte nach unseren Händen, und als es uns schließlich gelang und sich der Bussard etwas beruhigt hatte, konnte ich mir seine Verletzungen genauer ansehen. Die rechte Schwinge war gebrochen, hing lose herunter wie ein kaputtes Segel. Ich war zu spät gekommen, der Vogel würde nie wieder fliegen können. Besser, sie hätten ihn

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