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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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reichlich, in ungenauen Meldungen in Le Monde, in den Zumutungen der Weltbank, in der Budgetkürzung eines unbedeutenden christlichen Hilfswerkes. Sie wusste nicht, was vor sich ging, sie wusste nur, ihre Auslöschung war eine beschlossene Sache, die Auslöschung der Republik, der Demokratie, die Auslöschung ihrer Familie, die Vernichtung von allem, wofür ihre Väter gekämpft hatten, und es war eine ausgemachte Sache, dass die Friedensverhandlungen keinem anderen Ziel dienten als dem, das Land den Feudalisten zu übergeben, die Aristokratie wiedereinzuführen, und alle zu vernichten, die sich dagegenstellten. Sie stand zu ihrem Präsidenten, aber sie wusste auch, wie schwach er war, wie sehr er unter der Fuchtel seiner Frau und ihres Clans stand. Er war zu liebenswürdig, zu vertrauensselig, und er hatte keine Ahnung von der Dämonie seiner Gegner, von den Abgründen an Scheußlichkeit, vom Ausmaß ihrer Niedertracht. Er sah in ihnen Gegner, nicht Feinde, und wenn er auch manchmal in einer Rede leidenschaftlich wurde, den inneren Feind als die wahre Bedrohung ausmachte und zum Widerstand aufrief, so waren diese Einsichten nicht ehrlich empfunden, nur der Situation geschuldet, der Masse, die vor Wut kochte. Es war notwendig, dass man hinter dem Präsidenten, diesem braven Menschen, eine Verteidigungslinie aufbaute, einen wehrhaften republikanischen Wall.
    Dass ich Agathes Veränderung so lange nicht bemerkte, lag wohl daran, dass wir uns zu oft sahen und ihre Metamorphose eine schleichende war. Zudem jagte eine Neuigkeit die andere, Konferenzen wurden einberufen und abgesagt, Parteien gegründet und aufgelöst, es verging keine Woche ohne Morde, zehn Menschen hier, dreihundert dort, selbst wir von der Direktion gewöhnten uns daran.

Sie trug jetzt ausschließlich traditionelle Garderobe; die Caprihose und die schulterfreien Oberteile hatte sie weggeschmissen, auch die Schuhe mit den hohen Absätzen. Sie wollte nicht, dass man sie mit einer
femme libre
verwechselte, mit einer Langen, einer Feindin der Republik. Es war an der Zeit, sich zu seiner Herkunft zu bekennen, zu seinem Erbe, für das man mit allen erlaubten Mitteln kämpfte. Sie besuchte die Veranstaltungen der Koalition für die Verteidigung der Republik, der Partei ihres Bruders, der radikalsten unter den nicht wenigen radikalen Parteien.
    Unsere gemeinsamen Wochenenden fanden kaum mehr statt, sie mochte sich nicht mehr bekochen lassen, sie fand es kindisch und ungehörig, bei einem Drink auf der Veranda zu sitzen. Hin und wieder kam sie Sonntagabend, wenn die Demonstrationen sich aufgelöst hatten, ins Haus Amsar, erschöpft, verschwitzt, unter dem Arm eine dicke Rolle mit politischen Manifesten, Zwölf-Punkte-Programmen, die sie im Kerzenlicht auf der Veranda studierte, ohne sich um mich zu kümmern. Natürlich hätte ich mir Gespräche gewünscht, aber wenn ich versuchte, sie in eine Diskussion zu verwickeln, dann schwieg sie schon nach wenigen Sätzen, und das Gespräch erstarb, was immer noch besser war, als wenn sie ins Reden geriet, die Phrasen zum Besten gab, die sie gehört hatte, paranoide Vorstellungen, denen sie Leben und eine eigene Note zu geben versuchte, aber die doch nur Agathes Sprechapparat benutzten, um sich weiterzuverbreiten wie ein Virus, das selbst nicht lebt und eine Wirtszelle benötigt, um sich zu vermehren.
Wir werden nicht dulden, dass die soziale Revolution rückgängig gemacht wird. Die feudoanarchistischen Elemente akzeptieren den Volkswillen im Allgemeinen nicht, der in der Revolution von 1959 und vor allem auch im Kamarampaka-Referendum vom 25. September 1961 zum Ausdruck gekommen ist
. Man kann nicht die ganze Woche solche Sätze im Mund herumwälzen und dann sonntags mit demselben Mund mir nichts, dir nichts den Schwanz eines Umuzungu lutschen. Ihr habt vielleicht unser Land kolonialisiert, meinte sie einmal, aber ich werde nicht zulassen, dass du meinen Körper kolonialisierst. Solche Sätze. Zu Beginn versuchte ich noch, ihr zu widersprechen, meinte, als Schweizer habe ich mit dem Kolonialismus nichts zu tun, und zweitens hätte ich geglaubt, die Sache würde ihr mindestens ebenso viel Spaß machen wie mir. Sie lachte bitter. Ich weiß doch, was Spaß für einen Umuzungu bedeutet: doch nur, die ewig gleichen Demütigungen zu wiederholen.
    Zwei, drei Mal begleitete ich Agathe auf Parteiveranstaltungen, nur, um ein bisschen Zeit mit ihr verbringen zu können. Brodelnde, wütende Massen, aufgestachelt von hetzerischen

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