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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Mahlzeit, wenn es hochkommt, bis zur nächsten Ernte zu denken. Sie sah in diesem Vogel nichts als einen Störenfried, einen untergeordneten Teil der Schöpfung, den man ohne Schaden umbringen konnte. Für sie war es keine Sünde, im Gegenteil, man war sogar angehalten, den Vogel zu töten. Er machte einem das Futter streitig und die Nachbarn wahnsinnig. Sie hatte keinen Sinn für die Schönheit dieses Tieres, für die Anmut seiner Bewegungen, die Perfektion, mit der sich der Bussard durch die Luft bewegte.
    Agathe zog an ihrer Zigarette, und ich erkannte in ihrem Blick, dass sie mich für einen jener gewöhnlichen dekadenten Europäer hielt, die Katzen in ihren Betten schlafen ließen und Ratten als Haustiere hielten. Sie nahm den Tod eines Tieres in Kauf, damit ihre Nachtruhe gesichert war. Jedes Mitgefühl für diese leidende Kreatur schien ihr zu fehlen, und sosehr mich das abstieß, sosehr ich mich sogar davor fürchtete, etwas daran zog mich an, diese Kälte, diese Tüchtigkeit, die frei von Anteilnahme war und nur das Ergebnis kannte. Ich wollte wissen, was sie dachte, ob es in ihrem Herzen nicht ein Körnchen Liebe für dieses Tier gab, denn falls das der Fall sein sollte, so war es an mir, diesen Samen zu pflanzen. Wie konnten wir uns lieben, wenn ich für etwas Gefühle hatte, das sie nur abstieß, und ich dachte, ich würde am besten mit einem Kuss beginnen, und ich drückte meine Lippen auf ihre, verschloss den Mund, der so rohe Worte sprach, so herzlos war. Und ein bisschen wunderte ich mich, dass ihre Zunge nicht hart wie Leder war, sondern immer noch weich, ohne Stacheln, und ich fuhr fort mit der Erforschung der weichen, zarten, sanften, feinen Regionen der hartherzigen Agathe. Der Vogel schrie, wir hörten ihn nicht.
    Von Woche zu Woche versank ich tiefer in dieser dunklen, beängstigenden Leidenschaft, und wenn ich dann morgens in die Botschaft kam und mir Mariannes redliche, vernünftige Ideen anhörte, wie man ein anstehendes Problem lösen könnte, wenn wir mit einer Delegation des Planungsministeriums zusammensaßen und sie von vermehrter Anstrengung, besserer Planung, sauberer Abwicklung sprachen, dann fühlte ich mich jeweils, als sei ich in ein anderes Land geraten, in ein Paralleluniversum, wo die Menschen redeten wie Menschen, die Türen aussahen wie Türen, die Stimmen klangen wie Stimmen, und wo doch alles eine Täuschung war, ein neues Spiel, das die alten Regeln behauptete, obwohl längst andere Gesetze die Wirklichkeit bestimmten. Sie verlangten nach Schreibgerät, und weil Bleistifte nichts Schlechtes sind und das Gute ohne sie nicht geschaffen werden kann, weil jede gute Tat einen Bleistift erfordert, einen Bleistift und einen Lehrer, ein Telefon und eine Straße, weil es keinen besseren Beweis für unsere Redlichkeit gab und wir durch irgendeinen geheimen Fluch gezwungen waren, uns immer und immer wieder unsere Rechtschaffenheit zu beweisen, weil es kein besseres Zeichen gab als eine begradigte Straße, ein zum ersten Mal in einer abgelegenen Präfektur klingelndes Telefon, einen angespitzten Schweizer Bleistift in der Hand eines subalternen Beamten, deshalb gaben wir ihnen den Bleistift, mit dem sie dann die Todeslisten schrieben, deshalb legten wir ihnen die Telefonleitung, durch die sie den Mordbefehl erteilten, und deshalb bauten wir ihnen die Straßen, auf denen die Mörder zu ihren Opfern fuhren.
    Es war uns nicht egal, was sie mit unserer Hilfe anstellten, das heißt, es wäre uns nicht egal gewesen, aber wir sahen die Folgen nicht, wir sahen nur unsere Tugend, die uns zu helfen befahl. Und ich glaube nicht einmal, dass sie uns betrogen oder hinters Licht führten, sie behelligten uns einfach nicht mit den Dingen, die unsere Redlichkeit in Frage stellten.
    Wir waren nicht so dumm, nicht zu bemerken, dass die Einheimischen uns gewisse Dinge verheimlichten, dass uns die Hilfsbuchhalter, die Schreibkräfte bis fünf Uhr abends die eine Wahrheit erzählten, und dass danach, mit der Dämmerung, die andere Wahrheit begann, die Wahrheit in der Landessprache, die Intrigen, die Geheimnisse der Zugehörigkeit zum Netzwerk, die Urteile, die auf Verstoßung lauteten, die unerklärlichen Beförderungen, die scheinbar willkürlichen Zurücksetzungen.
    Manchmal nahm ich mir vor, den Vorhang herunterzureißen, die Welt mit einem einzigen wahren Wort zum Einsturz zu bringen, und dann saß ich da, in unserem Sitzungszimmer, die rechtschaffenen Beamten klein und eingeschüchtert in ihren

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