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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Sesseln, neben mir Marianne, die Redlichkeit anmahnte, Ordnung, Offenheit, Gerechtigkeit, und alles war so schön, so perfekt ausgerichtet, Marianne eine strenge und wunderschöne Meisterin und die schmächtigen Beamten in ihren viel zu großen Anzügen so vollkommen demütig und den Maßregelungen ergeben, dass es mir wie Frevel vorgekommen wäre, dieses Spiel zu verderben.
    Igihirahiro
begann, die Zeit der Ungewissheit zwischen der Unterzeichnung des Friedensabkommen, das nie umgesetzt wurde, und dem Ausbruch des Völkermordes. Im Süden des Landes wurden Politiker ermordet, in Kigali folgte eine Demonstration der anderen, jede hinterließ mindestens ein halbes Dutzend Tote, dem Führer der Sozialdemokraten wurde in den Kopf geschossen, in Burundi wurde der erste frei gewählte Präsident von der Armee getötet, Tausende flüchteten über die Grenze, heizten die Panik an – es sah nicht gut aus, und ich hatte die Gorillas noch immer nicht gesehen. Es ist schwer vorstellbar, aber in den Monaten nach dem Waffenstillstand hatte sich so etwas wie Normalität eingestellt, selbst im Februar 1993, als die Rebellen erneut angriffen und bis vor die Tore Kigalis kamen, Hunderttausende aus dem Norden in die Hauptstadt flohen, ging das gesellschaftliche Leben in der internationalen Gemeinde seinen gewohnten Gang.
    Missland legte wieder seine Schnipsel aus und suchte sich dafür Plätze im Südosten der Stadt, wo keine Rebellen zu erwarten waren. Und abends traf man sich in den Bars Mille Collines und Diplomates, und man hätte beinahe glauben können, die gute alte Zeit sei zurückkehrt. Es gab Verabschiedungsfeste für Botschaftsmitarbeiter, Begrüßungsfeiern für neue Entwicklungshelfer, kein Jubiläum und kein Geburtstag wurde ausgelassen, und auch wenn für die Einheimischen die Sicherheitslage kritisch blieb, für uns Expats hatte sich die Situation nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages im August verbessert, nicht nur objektiv, auch innerlich wähnten wir das Land auf dem Weg zum Frieden. Eine Mehrparteienregierung sollte eingesetzt werden, die Flüchtlinge sollten zurückkehren können, und schließlich trafen auch noch die Kavallerie und die Blauhelme unter Führung dieses kanadischen Generals mit dem Schnurrbart und den traurigen Augen in Kigali ein. Nur die UNO-Soldaten aus dem belgischen Kontingent stifteten Unruhe. Wenn sie nicht gerade die Lobby im Mille Collines auseinandernahmen oder einen Politiker aus Agathes Partei zusammenschlugen und ihm den Tod androhten, falls seine Zeitung noch einmal wagen sollte, Belgien oder belgische Soldaten zu beleidigen, nur weil sie hin und wieder ein paar Tutsifrauen in ihren alten Bedfords flachlegten. Dann tranken sie in den Cabarets, bis man sie hinaustragen musste, prahlten damit, in Somalia ein paar hundert Zivilisten umgebracht zu haben, und betonten, dass sie wüssten, wie man diesen Negern den Hintern versohlt. Agathe hasste sie, für sie waren diese Kerle Teil der Verschwörung gegen ihr Volk, und in der Direktion schüttelten wir den Kopf über die Vereinten Nationen, die ausgerechnet Soldaten der verhassten Kolonialmacht als Friedensstifter schickten.
    Insgeheim waren wir trotzdem froh über sie, denn wenn sie sich auch schlecht benahmen und sich ein wenig ungelenk ausdrückten: Die Leute hier benötigten tatsächlich eine harte Hand, davon waren wir überzeugt. Jetzt wissen wir, wie leer ihr Gerede war und dass Brüssel sämtliche Blauhelme abzog, keine zwei Wochen nachdem man die Präsidentenmaschine abgeschossen hatte und die Morde begannen. Sie konnten den Anblick der zehn Kameraden nicht ertragen, die man zusammen mit der Premierministerin getötet hatte, aber ich habe mich die ganze Zeit gefragt, zu was Friedenssoldaten gut sein sollen, wenn die Abmachungen nur gelten, solange keiner zu Tode kommt. Zurück blieb eine schlecht ausgerüstete Truppe, und wenn ich sie in den hundert Tagen manchmal in ihren uralten Transportern an Haus Amsar vorbeibrausen sah, empfand ich Mitleid für sie. Sie durften nicht eingreifen, nicht ihre Waffen benutzen, sie waren gezwungen, der Schlachterei zuzusehen und sich dabei ihre zarten, friedvollen Seelen zerstören zu lassen.
    Aber damals, in der letzten großen Regenzeit vor den Morden, da forderten uns ihre himmelblauen Helme zur Normalität auf, und nach den Monaten des Krieges, der Massaker, während derer wir in Kigali festgesessen hatten, verbrämten wir unsere Sehnsucht nach Zerstreuung, indem wir uns einredeten,

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