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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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geweckt, und bei Tagesanbruch machte ich mich auf den Weg, ausgerüstet mit Taschenmesser und Vorratsbox. Ich hatte schon den halben Weg zum Collège abgesucht, als ich eine Hausschlange aufstöberte, gelbbraun, madig und stinkend, nicht besonders groß, lang wie ein Unterarm, aber dafür ziemlich frisch. Sie reichte, um den Bussard einen Tag und eine Nacht zu besänftigen, dann musste ich frisches Aas suchen. Nach wenigen Tagen wusste ich, wohin ich gehen musste. Beim Kreisverkehr fand sich immer ein überfahrenes Reptil; am Markt gab es Ratten, von den Marktfahrerinnen totgeschlagen und in den Graben geworfen. Ich hasste es, die struppigen stinkenden Nager anzufassen, und ging da nur hin, wenn ich anderswo keine Beute fand. Manchmal halfen Kinder bei der Suche. Sie führten mich zu den toten Tieren, doch fassten sie das Aas nie an.
    Die morgendlichen Streifzüge entspannten mich und lenkten von den Schwierigkeiten in der Direktion ab, die täglich größer wurden. Im Imbiss an der Ecke genehmigte ich mir eine Tasse Tee mit gesüßter Kondensmilch. Die Hügel waren in einen friedlichen Schimmer gehüllt, das blanke Blech der Hüttendächer jenseits der Sümpfe funkelte in der tiefstehenden Sonne wie ein Netz aus Diademen. Oft sammelte ich mehr, als der Bussard an einem Tag fressen konnte. Ich legte die Kadaver in den Gefrierschrank und taute dann das Futter portionsweise auf.
    Shakatak erholte sich, setzte Gewicht an. Nach der Mauser fasste er Vertrauen zu dem Mann, der ihm Tag um Tag gutes Futter brachte. Er setzte sich auf meine Hand, ließ sich liebkosen, gab knarrende Geräusche von sich, Laute des Wohlgefallens. Ich fütterte ihn mit Aas, und er bedankte sich mit Zuneigung, tröstete mich über den Ärger mit Agathe hinweg, und ich ahnte nicht, wie weit ich für die kleine tierische Gunst zu gehen bereit war.
    Es war einer der jungen, bis auf die Rippen abgemagerten Hunde, die vor dem Mille Collines herumlungerten, und die Stoßstange der Limousine zertrümmerte seine Schnauze. Der Köter war nicht auf der Stelle tot, versuchte, mit der Vorderpfote den Schmerz loszuwerden. Der Fahrer, wohl ein Ministerialbeamter, in Anzug und Krawatte, kurbelte das Fenster herunter, ignorierte den winselnden Hund und besah sich mit einem raschen Blick den Kotflügel. Ich hatte das Tier aus den Augen verloren, fand dann aber seine Blutspur, einen dünnen Faden, der hinter eine Papyrusmatte führte, die als Sichtschutz ein angrenzendes Grundstück umgab. Der Hund hatte sich in ein Gebüsch verkrochen, er atmete noch. Als ich mich näherte, schnappte er nach meiner Hand. Die rechte Schädeldecke war zertrümmert, der Unterkiefer stand in einem grotesken Winkel ab wie eine schräg eingeschobene Schublade. Es würde nicht mehr lange dauern, ich ließ ihn allein.
    Nach Feierabend machte ich mich mit einer Taschenlampe auf den Weg zur Kreuzung. Das Tageslicht war vollständig verschwunden, eine einsame Straßenlampe beleuchtete die Avenue Rusumo. Ich fand das Tier nicht auf Anhieb, der Hund lag nicht mehr hinter der Papyrusmatte. Erst nach einigem Suchen entdeckte ich ihn unter einem Sandstrauch. Mit der Taschenlampe stieß ich ihn an, er war steif, dann zog ich ihn an den Hinterläufen aus dem Gebüsch.
    Eine Stimme sprach mich an, und als ich mich erschrocken umdrehte, blickte ich in das Gesicht eines Alten. In Kigali sah man selten Menschen über fünfzig, aber dieser Mann mochte um die sechzig sein. Sein Bart war ergraut, und auf seinem lotterigen Schubkarren lagen ein paar Hundeleichen. In einem Käfig daneben krümmte sich winselnd ein Köter mit einer hellen Blesse zwischen den Ohren. Er versuchte die Schlinge loszuwerden, die seine Schnauze fesselte.
    Aasgeruch stieg in meine Nase, als der Kadavermann an mir vorbeitrat. Er besah sich kurz den Hund und machte sich daran, ihn zu den anderen Leichen auf den Karren zu laden. Ich sprach ihn auf Kynarwanda an. Der Alte stutzte. Schlechter, dreckiger Köter. Nichts für Sie. Nichts für einen Umuzungu. Er schnäuzte sich in die Finger. Ich kaufe den Hund. Was wollen Sie dafür? Tausend Francs? Der Kadavermann regte sich nicht. Für tausend gibt’s den Köter da. Er deutete auf den Hund im Käfig. Der lebt. Ist aber bissig. Ich will den Toten, entgegnete ich. Der Alte schüttelte den Kopf. Alle Welt ist verrückt geworden, volkommen verrückt. Er zog den toten Hund von der Ladefläche, warf ihn mir vor die Füße. Sind schon die Maden dran, sagt er, dann nahm er den hingereichten

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