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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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gelegt hatte. Er sah Ratten unter sich, wusste, mit einem falschen Schritt würde er bei ihnen liegen. Die Männer führten ihn in einen Unterstand, von einer funzeligen Karbidlampe erhellt. Männer saßen auf Bänken aus rohen Bohlen, es roch süßlich, nach Unrat und nach etwas, das er nie gerochen hatte. Er schämte sich für seine Sauberkeit, seine seifige Reinlichkeit leuchtete unanständig in diesem Schmutz. Die Männer sangen, ein Alter, dem der rechte Unterarm fehlte, gab die Phrase vor, die anderen repetierten, Strophe um Strophe, mehr sprechend als singend. Dann meinte einer auf Französisch: Wir sollten Bier trinken. Das Hirsebier ist aus, sagte ein anderer, und ein Dritter: Dann trinken wir eben Primus. Und wer bezahlt? Ich nicht, hörte Paul einen jeden reihum sagen, meine Frau hat mir mein ganzes Geld weggenommen. Ich habe auch keines, ich auch nicht, so ging es reihum, bis die Reihe an Paul war. Er zupfte seine Börse aus der Hose, die Männer raunten, während ein Junge aus der Dunkelheit trat, halbnackt, bloß in einer zerschlissenen Trainingshose. Sie schoben ihn zu Paul, der ihm einen Tausend-Franc-Schein reichte. Der Junge schnappte ihn mit einer Bewegung, als wolle er einen Fisch mit bloßen Händen fangen. Darauf verschwand er, und die Männer nahmen das Lied wieder auf.
Nta we Ukwanga! Freue dich, die Jungen singen für dich, sie singen Lieder voller Hingabe und Harmonie! Freue dich, dein Name steht dir; freue dich mit den deinen, sie haben Lust, dich wiederzusehen, sei ruhig, niemand hasst dich, niemand hasst dich! Nta we Ukwanga!
Jemand reichte Paul einen Bratspieß, es waren Rindersehnen, zu Schnecken aufgerollt, zäh, salzig, er hatte so etwas noch nie gegessen. Begreifen Sie, David, sagte Paul mit Nachdruck, als sei er der Angeklagte und ich der Richter, den er von seiner Glaubwürdigkeit überzeugen musste. Ich war endlich angekommen, zum ersten Mal in all den Jahren hatte ich das Gefühl, die echte, stinkende, fröhliche Wirklichkeit zu sehen. Ich musste die Sehnen ewig kauen, dann zerbröselten sie mir plötzlich im Mund. Sie haben uns immer die besten Stücke gereicht, wo immer wir hinkamen, bekamen wir nur die Rückenstücke und dann und wann die Leber, aber jetzt aß ich endlich, was jene aßen, die nie auch nur einen einzigen Franken von unserer Hilfe gesehen haben. Und auch nie einen sehen werden. Unsere Gelder flossen in die Taschen der Reichen, und auch die nächste und die übernächste Generation wird in den Sümpfen verfaulen, Sehnen fressen und saures Hirsebier trinken und keine Freude haben als ihre Lieder und dann und wann einen Kasten Industriebier, einen, wie der Junge ihn jetzt heranschleppte, zusammen mit einer Flasche Highlander Whisky. Er habe vorher und nachher nie dieses Zeugs angerührt, beteuerte Paul, er wollte sich fernhalten von allem, was ihn verderben und korrumpieren könnte, und jetzt wusste er, dass genau dies sein Vergehen war. Er wollte sauber bleiben, unberührt vom Chaos, weil er geglaubt hatte, Ruhe und Beständigkeit würden sich von ihm über die Welt ausbreiten. Und dabei war er jener Fremdkörper, um das sich das Chaos versammelte, so wie Schwefellösung einen Fremdkörper benötigt, um Kristalle auszubilden. Wir kochten die Suppe, David, aber wir haben sie nie umgerührt. Das Fett schwamm oben, aber unten brannte der Bodensatz an. Er erzählte, wie er mit Whisky den Sehnenbrei herunterspülte, die Flasche leerte und dem Jungen rasch neues Geld gab. Die Männer lachten, schlugen sich auf die Schenkel und stimmten ein anderes Lied an.
Ngwino rukundo – Komm, Geliebte, komm, wolkenloser Himmel, ich habe ein Parfum bereitet, ich will es auf deinen Körper sprengen und freundlich singen, bis du trunken bist vor Entzücken. Mbwira rukundo Inzira yose waje – Komm, Geliebte, und erzähl mir von deinem Weg, du sollst nicht an die Sonne, ich fürchte, sie könnte dich verführen, mich nicht zu treffen
. Paul versuchte, die Worte zu wiederholen, unsicher zuerst, dann immer selbstbewusster, die Männer freuten sich, und auf einmal wurde eine Frau in den Kreis geführt, keine Frau, ein Mädchen noch, er sah, es musste eine Tutsi sein. Er sah die Angst in ihren Augen, und er roch sie, sie roch billig wie der grüne Dufterfrischer, der auf dem Klo in der Botschaft stand. Der Mann rechts von Paul machte Platz, das Mädchen setzte sich neben ihn, und als der Junge zurückkam, trank sie als Erste aus der Whiskyflasche, erhob sich dann plötzlich und begann zu

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