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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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purpurroten Strangulationsmalen um den Hals, da war es nicht alleine die Grausamkeit, die mich empörte, es war der Handschuh, den die Mörder bei den toten Kindern liegen gelassen hatten, ein Handschuh, wie die Rebellen sie trugen. Und von da an drehten sich die Reden nicht mehr um die erschlagenen Kinder; die einzige Frage war, ob es tatsächlich die Kakerlaken gewesen waren oder doch die Milizen, die den Verdacht auf die Kakerlaken hatten lenken wollen und sechs ihrer eigenen Kinder geopfert hatten, um sie dann mit dem Tod von sechzig Ibyitsos rächen zu können.
    Die Tat verschwand hinter der Maske der Täuschung, von der niemand sagen konnte, ob es tatsächlich eine war, und die menschliche Grausamkeit wäre hinzunehmen gewesen, aber nicht das Spiel, das mit den vergewaltigten, strangulierten Kindern gespielt wurde. Und ich erinnerte mich an ein Gespräch, das ich mit Missland ein paar Monate zuvor geführt hatte, im März dreiundneunzig, an dem Tag, an dem die Arbeitsgruppe der Internationalen Menschenrechtsföderation ihren Bericht veröffentlichte. Spätestens da war uns allen klar, was gespielt wurde. Dass die Morde in Kibilira und Bugesera keine zufälligen Gewaltausbrüche, sondern von oberster Stelle organisiert waren.
    Die Geschichte dieses Landes ist eine große Lüge, hatte Missland gesagt und sich über die Experten lustig gemacht, die in ihrem Bericht vom Präsidenten Maßnahmen gegen die Todesschwadronen forderten. Der Mann, von dem sie ein Vorgehen verlangen, ist selbst der Boss der Todesschwadronen, erklärte er. Die klugen Herren müssten wissen, dass es in diesem Land so etwas wie eine Wahrheit nie gegeben hat. Jeder erzählt die Historie, wie es ihm gerade in den Kram passt, und mittlerweile glauben sie selbst an ihre Märchen. Woher die einen gekommen sind, was der Grund ist, weshalb sie einander die Kehle durchschneiden, warum Dian Fossey ermordet wurde, ob die alte Schachtel im Präsidentenpalast eine Hexe ist oder nicht, ob der Sohnemann des Generalmajors Marihuana anbaut, ob er es tatsächlich an die Franzosen verkauft. Was weiß ich, was noch alles für Gerüchte kursieren. Scheiß drauf. Die Leute hier haben ihre eigene Geschichte so oft umgebogen, dass sie mittlerweile keine Ahnung mehr haben, wer oder was sie sind. Und diese ganzen Massaker dienen nur dazu, wenigstens eine Wahrheit zu haben. Es gibt nur ein klareres Faktum als eine frische Leiche, und das sind hundert Leichen. Sie sehnen sich nach unumstößlichen Tatsachen, das ist der Grund für ihren Mordwillen. Kommen Sie mir nicht mit Stammesdenken, ethnischen Spannungen, Landnot und so weiter, das ist alles Mumpitz. In der europäischen Presse entrüsten sie sich darüber, weil es offensichtlich keinen plausiblen Grund für die Morde gibt. Ja, braucht es denn das? Ich meine, würde ein guter Grund die Sache besser machen? Ein Blutbad, na, wenn es denn unbedingt sein muss, aber bitte liefert uns eine Erklärung dafür. Den Kerlen auf dem Balkan sehen sie die Vertreibungen, Vergewaltigungen irgendwie nach, schließlich steckt eine Idee dahinter, großserbischer Nationalismus, ethnische Säuberungen und so weiter, alles schlimm, alles schrecklich, aber immerhin gibt es eine Absicht, und die Opfer sterben zwar aus einem verbrecherischen Grund, aber zumindest sterben sie nicht grundlos, sondern für eine Idee. Und vor allem jagt man ihnen eine Kugel durch den Kopf. So denken doch die intellektuellen Schreiberlinge in ihren wohlgeheizten Redaktionsstuben. Sie halten die Mörder im Bugesera für Tiere, weil sie Macheten benutzen. Hat man Karl den Großen einen Barbaren genannt, weil er seine Feinde mit Äxten und Speeren tötete?
    Die Morde hatten immerhin Misslands Position bei der Direktion verbessert. Seine kleine Denise war eben eine Lange, und was sie in all den Jahren beschämend fanden, fanden sie nun plötzlich reizend. Sie waren geradezu süchtig danach, auf der Seite der Opfer zu sein. In den vierzig Jahren, seit unsere Leute hier ihr Unwesen trieben, galten immer die Kurzen als benachteiligt. Sie hatten zwar die Monarchie gestürzt und beherrschten die Politik, aber sie benahmen sich, als seien sie immer noch die Unterdrückten, als müssten sie sich immer noch vom Joch der Aristokratie befreien. Dieses ganze Pathos, von wegen Bürgergesellschaft und Selbstbefreiung, Republik gegen Monarchie, war für die Direktion der Grund gewesen, zu den Kurzen zu stehen. Und nun erkannten wir, dass wir in all den Jahren die Schweinehunde

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